Nora Morgenroth: Die Gabe
Nachdem ich ewig an der Kasse angestanden hatte, schleppte ich die schweren Tüten nach Hause. Als ich endlich durch die Haustür trat, stand mir der kalte Schweiß auf der Stirn. Am Fuße der Treppe setzte ich die Taschen ab und läutete bei Anders. Niemand öffnete, also machte ich mich an den mühsamen Aufstieg. Als ich nach mehreren kurzen Pausen im vierten Stock angekommen war, drückte ich auf die Klingel unter dem verschnörkelten Messingschild mit der Aufschrif t E. Mülle r . Ich hörte noch das Läuten, dann wurde mir schwarz vor Augen.
… h ab keine Angst …
K räftige Hände griffen nach mir und fingen mich unerwartet sanft auf.
Marc … was tust du hier? Marc?
„Frau Morgenroth, was ist mit Ihnen?“
„Oh je, die Arme, bringen Sie sie schnell herein!“
„Sollten wir nicht lieber einen Krankenwagen rufen? Die sieht gar nicht gut aus!“
„Ach was, Herr Anders, wir müssen sie nur irgendwie hereinbekommen. Ich kann ja nicht so schwer heben. Schaffen Sie das allein?“
„Ja, kein Problem, ich hab sie ja schon, aber wenn sie nicht gleich aufwacht, dann müssen wir den Notarzt rufen, mir ist gar nicht wohl bei der Sache!“
„Ich halte Ihnen die Tür auf. Passen Sie auf mit dem Kopf!“
Ich schwebte . Dann spürte ich etwas Weiches unter mir. Ich öffnete die Augen. Über mir hingen zwei Gesichter, das eine rund, runzelig und von dünnen grauen Löckchen umrahmt, das andere hatte ich doch vorhin erst gesehen. Der Haumeister. Der hatte mich getragen? Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut, so kräftig sah er nicht aus. Mühsam versuchte ich mich aufzurichten. „Wo wollen Sie denn hin? Bleiben Sie doch liegen!“
Die alte Dame hielt mir ein Glas entgegen.
„Hier, trinken Sie einen Schluck Wasser, das wird Ihnen gut tun. Und Sie bleiben schön liegen, wie der Herr Anders gesagt hat!“
Gehorsam nahm ich einen Schluck und dann noch einen. Die runzelige Hand nahm mir das Glas wieder ab.
„Es geht schon besser, vielen Dank! Tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache. Ich bin einfach noch nicht wieder ganz fit. Danke, dass Sie so freundlich zu mir sind.“
„Das ist doch selbstverständlich! Ich bin auch jedes Mal ganz geschafft, wenn ich die Treppen heraufklettern muss. Natürlich kann man das nicht vergleichen, Sie sind ja noch so jung, aber da kann man schon aus der Puste geraten, nicht wahr? Das ist aber auch wirklich kein Zustand, Herr Anders, das habe ich Ihnen schon tausendmal gesagt!“
„Und ich habe Ihnen schon tausendmal gesagt, liebe Frau Müller, dass der Aufzug leider nicht in meiner Zuständigkeit liegt. Die Hausverwaltung muss sich darum kümmern. Und das tun sie ja auch, der Wartungsdient ist benachrichtigt, aber über die Feiertage hatten die auch nur eine Notbesetzung. Anfang nächster Woche spätestens soll der Aufzug wieder funktionieren!“
„Ja, bis zum nächsten Mal, nicht wahr?“, sagte die alte Dame und lächelte. „Aber lassen Sie mal, ich weiß ja, dass es nicht Ihre Schuld ist. Trotzdem ist es ärgerlich, ich mag kaum noch aus dem Haus gehen , weil der Aufstieg so beschwerlich ist, Sie wissen doch, meine Knie. Und seit mein Felix nicht mehr ist …“
„Frau Müller, Sie wissen doch, dass ich Ihnen jederzeit etwas besorgen und heraufbringen kann, wenn Sie mir nur Bescheid sagen!“
Die alte Frau lächelte Herrn Anders dankbar an.
„Unser Herr Anders hier ist ein ganz Netter, müssen Sie wissen. Wenn irgendetwas ist, er ist immer zur Stelle. Wirklich, um alles kümmert er sich hier im Haus. Aber erstens haben Sie auch noch anderes zu tun und zweitens will man ja auch mal aus dem Haus kommen. Aber nun genug damit, wir müssen unsere Patientin hier erst einmal auf die Beine bekommen. Was ist denn mit Ihnen? Haben Sie auch genug gegessen heute früh? Ihr jungen Frauen esst ja alle nicht vernünftig, sehen Sie mal, wie dünn sie ist!“
Ich verkniff mir ein Grinsen. Diese beiden waren wirklich putzig, wie sie so über mir standen und sich unterhielten, als wäre ich gar nicht dabei. Mit einem Mal war mir mein kleiner Zusammenbruch gar nicht mehr peinlich. Die alte Dame, bei der es sich ja wohl um Frau Müller handelte, gefiel mir gut. Sie erinnerte mich an meine Großmutter, nicht nur äußerlich. Omi hatte auch so freundliche, verschmitzt blickende runde Augen gehabt und wenn sie den Mund aufmachte, dann sagte sie fast immer etwas Nettes. Sie konnte durchaus spöttisch sein, aber niemals war sie gehässig. „Man darf sich selbst bloß nicht
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