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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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jemand trat ein. Noch ehe ich mich umsah, wusste ich, dass es Mutter war. Sie brachte es fertig, dass sogar ihre Schritte vorwurfsvoll klangen. Aber vermutlich war ich als einziger Mensch auf der Welt in der Lage, das zu hören.
    Sie kam näher.
    „Nora?“
    Ich atmete tief ein und wandte mich um.
    „Hallo Mutter.“
    Sie war einen Schritt vor mir stehengeblieben und hob einen Arm, als wollte sie mich berühren. Dann ließ sie den Arm sinken, als hätte sie es sich im letzten Moment anders überlegt. Ich fühlte mich seltsam benommen, wie schlaftrunken, obwohl ich doch nicht einmal gelegen hatte. Sogar meine wenig einfühlsame Mutter schien zu bemerken, dass etwas anders war.
    „Geht es dir auch gut? Wie ich hörte, kannst du das Krankenhaus morgen verlassen. Ich hole dich selbstverständlich ab, das heißt, ich hoffe, dass ich es schaffe. Es ist so viel zu tun in diesen Tagen, die Trauerfeier und all das, ich muss mich ja jetzt um alles kümmern. Und im Büro ist auch so viel zu tun, wir haben da gerade dieses Herrenhaus, das wirklich …“
    „Nicht nötig, ich komme auch so zurecht.“
    Mein Ton fiel vielleicht eine Spur zu schneidend aus, jedenfalls klappte Mutter den Mund wieder zu . Ihre Lippen waren nur noch ein schmaler Strich.
    Vielleicht hatte Frau Dr. Weber Recht und ich sollte schnellstens psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. In erster Linie wegen des Unfalls natürlich, aber vielleicht konnte ich bei der Gelegenheit auch gleich meine ganze vertrackte Familiengeschichte aufarbeiten. Dann würde ich vielleicht lernen, Mutter zu vergeben, dass sie nicht die liebevolle Mama gewesen war, die ich mir gewünscht hatte. Es war nun einmal, wie es war. Höchste Zeit also, dass ich erwachsen wurde und es akzeptierte. Außerdem hatten wir jetzt Wichtigeres zu tun, als uns um unsere Befindlichkeiten zu kümmern. Ich beschloss, um des lieben Friedens willen nachsichtiger zu sein. Vermutlich meinte sie es sogar gut, auf ihre Art. Jedenfalls würde ich versuchen, meinen Teil beizutragen. Also tat ich etwas, was ich sonst niemals getan hätte. Ich trat einen Schritt auf Mutter zu und legte ihr eine Hand auf den Arm. Es fühlte sich merkwürdig an, ich berührte sie sonst nicht einfach so. Das taten wir überhaupt nie, außer ganz kurz und unbeholfen zur Begrüßung oder zum Abschied.
    „Es ist gut, wirklich. Ich nehme mir morgen ein Taxi nach Hause. Du hast in den letzten Tagen schon genug getan.“
    Eigentlich wollte ich noch ‚Mama‘ anhängen, aber das brachte ich dann doch nicht über die Lippen. So hatte ich sie nicht mehr genannt, seit … ich konnte nicht einmal mehr sagen, seit wann nicht mehr. Es war lange her.
    Sie zögerte kurz, als misstraute sie dem Friedensangebot.
    „Na gut, wenn du meinst, das ist vielleicht auch praktischer so. Morgen ist ja Silvester und ich habe doch diese Feier.“ Sie stockte. „Ich hoffe, du findest es nicht unangemessen, ich meine, wegen Marc und so. Ich fahre am Nachmittag ja auch noch bei Hedda vorbei. Aber es nützt doch weder ihr noch dem armen Marc, wenn ich allein zuhause sitze und Trübsal blase.“
    Ich schüttelte den Kopf.
    „Mach dir keine Gedanken, es ist alles in Ordnung. Ich bin morgen Abend bei Hedda. Ich habe schon auf der Station nachgefragt und die Schwestern sagen, weil Silvester ist, sind die regulären Besuchszeiten aufgehoben. Du kannst also ganz beruhigt sein.“
    Wie ich es erwartet hatte, ließ Mutter sich nur allzu gern beruhigen. Mir war es recht, denn ich legte keinen Wert darauf, den letzten Abend des Jahres zusammen mit ihr an Heddas Krankenbett zu verbringen. Es würde auch so schon trübsinnig genug werden.
    „Übrigens, wusstest du, dass die Polizei gestern deine Schwester befragt hat?“
    „Nein, das wusste ich nicht. Und?“
    Mutter zuckte mit den Schultern.
    „Viel konnte sie denen nicht sagen. Das war ja klar. Sie hat nur die Scheinwerfer im Rückspiegel gesehen. Und dass der viel zu schnell näher kam, bei dem Schnee. Und dann war alles so schnell gegangen. Einfach furchtbar, wenn man bedenkt, dass der Fahrer wahrscheinlich davonkommen wird. Ihr habt ja beide nichts gesehen, kein Nummernschild, gar nichts.“
    Ich nickte zerstreut, während Mutter weiter plapperte. Bei mir waren die Beamten ebenfalls gewesen. Leider hatte ich überhaupt nichts beitragen können. Ich war in jener Nacht auf dem Beifahrersitz eingenickt und wurde erst durch Heddas Ausruf aufgeschreckt. Das geschah unmittelbar, bevor der Wagen sich zu drehen begann

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