Nora Morgenroth: Die Gabe
zu wichtig nehmen“, hatte sie immer gesagt. Manchmal hatte sie schon auf dieses oder jenes geschimpft, ohne dabei jemals zu jammern. Diese alte Dame machte auf mich den Eindruck, als hätte sie einen ähnlich patenten Blick auf das Leben. Ohne auch nur irgendetwas von dieser alten Frau zu wissen, mochte ich sie, einfach so. Während Frau Müller und Herr Anders weiter darüber fachsimpelten, ob ich auch genug zu mir nahm, sah ich mich um. Die Wohnung war wie aus der Zeit gefallen. Das Sofa, auf dem ich lag, war mit einem seidigen Stoff bezogen und einigermaßen durchgesessen. Biedermeier, wenn mich nicht alles täuschte, und zwar echt. Möbel für ein ganzes Leben, so etwas kaufte doch heute keiner mehr. An den Wänden stand eine mit Porzellan gefüllte Vitrine neben der nächsten, dazwischen kleine Tischchen mit allerlei Nippes und Bilderrahmen. Es sah aus, als hätte man einen ehemals großen Hausstand in diese kleine Wohnung gepfercht. Viele Stücke wirkten auf mich eher antik als einfach nur alt, es war jedoch hoffnungslos überfüllt. Man sah, dass hier jemand ganz in seinen Erinnerungen lebte. Während ich mich umsah, hatte ich das Gefühl, als sei noch jemand anwesend außer uns dreien, ein Gefühl, als würde man heimlich angesehen. Unwillkürlich wandte ich den Kopf. Da war niemand.
„Brauchen Sie etwas? Vielleicht noch ein Glas Wasser oder soll ich Ihnen einen Tee machen?“
„Vielleicht lieber einen Schnaps, das bringt den Kreislauf auch in Gang“, schlug der Hausmeister vor. „Ich kann eben nach unten laufen, wenn Sie nichts im Haus haben.“
„Also wirklich, Herr Anders, wir wissen doch nicht einmal, was sie hat, am Ende ist sie noch … Ich meine, es geht uns ja gar nichts an, aber sind Sie vielleicht … Sie wissen schon?“
„Nein, ich bin nicht schwanger, keine Sorge. Aber einen Schnaps möchte ich lieber trotzdem nicht.“
„Sie müssen schon entschuldigen, aber man kann das ja nicht wissen, nicht wahr? Am besten mache ich Ihnen eine Kleinigkeit zu essen.“
Ich richtete mich versuchsweise auf und schwang die Beine über die Sofakante. Mir war gar nicht mehr schwindelig. Allerdings spürte ich jetzt doch ein deutliches Hungergefühl. Es wurde Zeit, dass ich nach Hause kam.
„Vielen Dank, Frau Müller, das ist sehr nett von Ihnen. Aber es geht schon wieder. Mit mir ist alles in Ordnung, es ist nur wegen dem Unfall. Ich bin noch nicht so ganz auf dem Damm.“
„Unfall, was denn für ein Unfall?“
Ich bemerkte, wie sie Herrn Anders einen erschrockenen Blick zuwarf, der sah allerdings beiseite, als hätte er nichts gehört.
„Es war am zweiten Weihnachtsfeiertag, meine Schwester und ich … wir hatten einen Autounfall. Sie hat einen Beinbruch erlitten und wurde operiert, aber sie wird wieder gesund. Und mir ist im Grunde gar nichts passiert. Es geht schon wieder, wirklich.“
Wie zum Beweis, dass es mir wieder gutging, erhob ich mich. Ich merkte sofort, dass ich vorsichtig sein musste, so ganz sicher war ich nicht auf den Beinen. Also biss ich die Zähne zusammen und lächelte fröhlicher, als mir eigentlich zumute war. Auch wenn diese Leute das alles nichts anging, fühlte es sich nicht gut an, dass ich so tat, als wäre alles halb so schlimm gewesen.
„Herr Anders, Sie tragen der jungen Dame aber wenigstens die Einkäufe nach oben, ja? Ich bestehe darauf! Sie sind doch früher auch immer mit nach oben ….“
„Schon gut, Frau Müller.
Der Hausmeister griff nach den Tüten, die im Eingangsflur standen. Plötzlich sah er gar nicht mehr so nett aus.
Wahrscheinlich nervte ihn die Aussicht, jetzt auch noch für mich Botengänge machen zu müssen. Das konnte ich ohne Weiteres verstehen, es war Silvester, der Mann hatte vermutlich Besseres zu tun.
„Lassen Sie mal, Herr Anders, das schaffe ich schon, die paar Stufen!“
Ich wollte ihm die Tüten abnehmen, doch jetzt lächelte er wieder, wenn auch etwas angestrengt.
„So ein Unsinn, natürlich mache ich das, kein Problem.“
Ich wandte mich zu der alten Dame um.
„Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich hoffe, ich kann mich irgendwann mal revanchieren!“
„Ich habe eigentlich nicht vor, bei Ihnen zu läuten und dann zusammenzubrechen.“
I ch stutzte kurz, dann lachte ich.
„ Nein, natürlich nicht. Aber Sie sagen mir bitte, wenn ich etwas für Sie tun kann, ja? Egal, was.“
„ Danke, meine Liebe. Und Sie schonen sich! Lassen Sie es lieber ruhig angehen. Gehen Sie denn noch feiern heute?“
„Nein, ganz
Weitere Kostenlose Bücher