Nora Morgenroth: Die Gabe
lud ich alles zusammen mit dem gekühlten alkoholfreien Sekt in den Korb. Fünf Minuten später schnappte die Haustür hinter mir ins Schloss und ich machte mich auf den Weg in die Klinik. Zum zweiten Mal an diesem Tage gönnte ich mir ein Taxi, ich war ohnehin schon spät dran. Meinen eigenen Wagen ließ ich auf dem Gemeinschaftsparkplatz stehen, ich wollte lieber noch nicht selbst fahren. Das erschien mir zu gefährlich, falls mir wieder schwindelig wurde.
Was für ein Jahresende, ein wahrlich würdiger Abschluss für ein beschissenes Jahr, sagte ich mir, als ich einige Stunden später im Bus saß und auf die abendliche Straße blickte. Der Schnee, der über Weihnachten so reichlich gefallen und uns schließlich zum Verhängnis geworden war, hatte sich in Matsch verwandelt, der jetzt zu gräulichen Klumpen gefror. In den letzten Tagen, während ich im Krankenhaus gelegen hatte, war das meiste vom Schnee weggetaut, doch an diesem Abend waren die Temperaturen wieder unter Null Grad gesunken. Überall waren größere und kleinere Gruppen von feiernden Menschen unterwegs, in dicken Jacken oder Mänteln, eingemummelt in Schals und Mützen, einige lachten und trugen geöffnete Sektflaschen in den Händen. Ich sah auch Paare, die festlich gekleidet irgendeiner Veranstaltung entgegen strebten. Vor einem Haus wurden Böller vom Balkon geworfen, deren Detonation so heftig war, dass man sie auch im Bus noch deutlich hörte. Hier und dort sah ich Raketen am Himmel zerplatzen.
Ich war einfach fix und fertig. Bei Hedda waren an diesem Abend alle Dämme gebrochen. Wahrscheinlich war es gut so. All das, was ihr auf der Seele gelegen hatte seit Monaten schon, was sie aus Loyalität Marc gegenüber niemandem erzählt hatte, nicht einmal mir. Jedenfalls hatte ich mich zu meiner kleinen Schwester auf die Bettkante gesetzt, als die Tränen zu fließen begannen und hatte sie im Arm gehalten, so gut das ging mit all den Kabeln, Schnüren und Verbänden. So waren wir nicht wirklich zum Essen gekommen und als ich schließlich ging, weil Hedda müde war und schlafen wollte, hatte ich die fast unberührten Reste den Schwestern und Pflegern gestiftet, die an diesem Abend Dienst taten und sich über die Abwechslung freuten. Dann strich ich Hedda, die erschöpft unter der Decke lag und mich aus schläfrigen, rotgeweinten Augen ansah, noch einmal über das Haar und ging. Vor der Klinik war kein einziges Taxi zu sehen. Kein Wunder an diesem Abend. Ich hätte mir eines rufen können, aber mir fehlte die Geduld zum Warten, also war ich zur Bushaltestelle vor der Klinik gegangen. Ich wusste, dass die Busse um diese Uhrzeit noch alle paar Minuten fuhren.
Heddas Bericht hatte mich aufgewühlt. Lange schon hatte nichts mehr gestimmt zwischen ihr und Marc, viel länger, als ich auch nur geahnt hatte. Und da hatte ich immer gedacht, dass meine kleine Schwester und ich uns nahe stünden und wir alles voneinander wüssten. In der ganzen Zeit hatte sie kein Wort darüber verloren, dass Marc seit Jahren heimlich spielte. Mein Schwager hatte immer neue Kredite aufgenommen, bis schließlich die Löcher, die seine Spielsucht in die gemeinsamen Finanzen gerissen hatte, nicht mehr zu vertuschen gewesen waren. Vor rund einem Jahr hatte Hedda dann entdeckt, dass sie bereits hoch verschuldet waren. Seitdem hatte Marc immer wieder versprochen, sich helfen zu lassen, angeblich hatte er sogar einen Therapeuten aufgesucht, was sich letzten Endes aber nur als weitere Lüge entpuppte. Schließlich hatten sie, um die Schulden bei seinen windigen, größtenteils privaten Kreditgebern tilgen zu können, eine neue Belastung auf das Haus aufnehmen müssen. Alles war bis ins Kleinste durchkalkuliert gewesen, meine Schwester hatte sich und Marc einen strengen Sparkurs auferlegt. Wenn sie sich daran hielten und eisern jeden Euro zweimal umdrehten, konnten sie in fünf Jahren wieder schuldenfrei sein. Das war der Plan gewesen. Doch jetzt war alles vorbei. Mit nur einem Gehalt würde Hedda das Haus niemals halten können. Erst war die Ehe den Bach runtergegangen, jedenfalls beinahe und nun war sie mit einunddreißig Jahren Witwe geworden und würde auch noch ihr Zuhause verlieren. Hedda hatte geweint und immer weiter geweint, um Marc und ihre Liebe, die schon längst auf der Strecke geblieben war, um das Haus und überhaupt um alles, was geschehen war. Sie war felsenfest der Überzeugung, dass Marc durch ihre Schuld ums Leben gekommen war, ganz egal, was die Polizei auch sagte.
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