Nora Morgenroth: Die Gabe
durch das Rauschen, ein kaum wahrnehmbares Flattern, aber es war nicht irgendwo außerhalb, sondern ein Teil von mir wie mein eigener Atem. Er war ich und ich war er.
… h ilf mir…
Es tut mir leid, ich konnte nicht …
… d u musst … für Hedda … finden keinen Frieden
Was soll ich tun ?
Sag ihr … liebe sie über alles … meine Schuld … sie muss glücklich werden … Hedda …
Ich schaute nicht mehr auf meine Schwester, sondern auf die Geliebte, schaute mit Marcs Augen und wusste, es war sein Abschied . Der Abschied, der ihnen nicht vergönnt gewesen war, weil alles zu schnell ging. Ich schaute für ihn und spürte seinen Schmerz, der mich fast zerriss. Unstillbare Sehnsucht, erdrückende Schuldgefühle und endloses Bedauern über das im Alltag zerriebene Glück, das sie einmal gehabt hatten.
Ich verspreche es .
Nach einer Weile verging das Flattern und Kribbeln. Ich erhielt mein normales Körpergefühl zurück und ich setzte mich auf. Seltsamerweise fühlte ich mich erfrischt, als hätte ich zehn Stunden erholsamen Schlafes hinter mir. Leise tappte ich aus dem Zimmer und schloss vorsichtig die Tür.
Im Schwesternzimmer sagte ich Bescheid, dass ich ging und bedankte mich dafür, dass ich mich hatte ausruhen dürfen. Die Nachtschwester versprach, Hedda auszurichten, dass ich morgen wieder kommen würde.
Kurz nach neun Uhr war ich zuhause, fand einen blinkenden Anrufbeantworter vor und schnappte mir den Hörer. Eine knappe halbe Stunde später hatte ich Mutter die wesentlichen von Heddas Wünschen bezüglich der Trauerfeier übermittelt. Die wichtigste Anweisung lautete: Einladungen nur an wenige ausgewählte Freunde und ein paar Verwandte. Mutter tobte, weil sie, nach ihren Worten, den halben Tag damit zugebracht hatte, Umschläge zu beschriften und Briefmarken zu bekleben. Den Karton voll mit Trauerbriefen hatte sie am nächsten Tag zur Post bringen wollen. Jetzt musste sie bis auf wenige Ausnahmen alles in den Müll werfen. Ich verzichtete auf den Hinweis, dass niemand sie darum gebeten hatte, ihre halbe Kundenkartei zu Marcs Beisetzung einzuladen. Wir stritten erbittert, aber ich blieb Hedda zuliebe unerbittlich. Wenn es nur um mich gegangen wäre, hätte ich vermutlich längst eingelenkt, nur um das Telefonat beenden zu können. Als Mutter schließlich beleidigt den Hörer aufknallte oder vielmehr die rote Taste ihres vermutlich sündhaft teuren Designertelefons drückte, war ich vollkommen bedient.
Für diesen Tag hatte ich genug. Die anderen Anrufe mussten warten.
Ich bereitete mir ein Brot zu, das ich stehend in der Küche aß, während ich mir nebenbei Notizen für den morgigen Tag machte. Ganz oben auf der Liste stand der Florist, mit dem ich die vermutlich protzigen, von Mutter in Auftrag gegebenen Arrangements durchgehen musste. Vielleicht war es ungerecht, dass ich nun fast alles umwerfen würde, was sie in Auftrag gegeben hatte. Doch es machte mich unglaublich wütend, dass sie ihre beiden Töchter so wenig kannte. Sie hätte einfach wissen müssen, wie wenig von ihren Plänen in Heddas Sinne war. Entweder kannte sie uns so schlecht oder es war ihr egal. Aber vermutlich dachte Mutter wie immer, dass sie aufopferungsvoll ihr Bestes gegeben hatte und wir nur wie stets die undankbaren, verwöhnten Töchter waren.
Immerhin hatten wir vereinbart, dass wir am nächsten Nachmittag, also am ersten normalen Wochentag nach den Feiertagen, gemeinsam den Bestatter aufsuchen würden. Die Trauerfeier sollte in einer Woche stattfinden und es gab noch eine Menge zu besprechen. Außerdem musste ich mich mit Tageszeitungen eindecken und die Jobangebote durchgehen, es wurde höchste Zeit. Wenn Hedda erst einmal aus der Klinik kam und ich mich um sie kümmern wollte, dann würde ich nicht sehr viel Zeit für die Suche nach einer neuen Arbeit haben. Und ich musste mir überlegen, wie ich mein Versprechen Marc gegenüber einlöste.
SECHS
Vier Wochen später hatte der Alltag uns zurück. Jemand aus unserer Mitte war gestorben, meine Schwester war Witwe geworden und das Leben ging einfach weiter. Zum Ende der ersten Januarwoche war Hedda aus dem Krankenhaus entlassen worden. Als ich sie abholte, inzwischen fuhr ich auch wieder selbst, nutzte ich die Gelegenheit, um mich bei Andreas, dem hilfsbereiten Pfleger, zu bedanken. Da ich gar nichts über ihn wusste, war ich zuerst unsicher gewesen, was ich ihm mitbringen sollte. Es sollte ja auch nur eine Geste sein. Schließlich fiel mir das Buch ein,
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