Nora Morgenroth: Die Gabe
Dieses gruselige Detail wurde von bestimmten Teilen der Presse später genüsslich ausgewalzt.
Drei Kilometer weiter, in einer engen Kurve, glitt das Opfer vom Dach auf die Gegenseite der viel befahrenen Bundesstraße und zwar direkt vor einen voll beladenen Holztransporter samt Anhänger. Yasmine A. wurde mehrmals überrollt, ehe das lange Fahrzeug zum Stehen kam. Der Fahrer erlitt einen Schock, wogegen der Paketbote erst am nächsten Tag ermittelt werden konnte. Er war weiter gefahren, da er von dem ganzen tragischen Verlauf rein gar nichts mitbekommen hatte. Am Ende blieb vieles ungeklärt, vor allem die entscheidende Frage: Wie war Yasmine A. vom Balkon gestürzt? Hatte sich zu dieser Zeit überhaupt eine weitere Person im Loft aufgehalten?
Falls die Leiche Verletzungen durch einen Kampf oder Gegenwehr davon getragen hatte, dann war diese erstens durch den Sturz und zweitens durch den Holztransporter restlos vernichtet worden. Sie überhaupt nur zu identifizieren, war schwierig gewesen. Letztlich war die Feststellung nur dadurch gelungen, indem per Ausschlussverfahren untersucht worden war, wo sie möglicherweise auf das Dach des Postwagens hatte gelangen können. Als die Polizei die Wohnung – meine Wohnung also – ausfindig gemacht hatte, war alles untersucht worden, aber weder die Wohnräume noch das Balkongeländer hatten irgendeinen Aufschluss auf das Geschehen gegeben. Natürlich waren die Fingerabdrücke der Bewohnerin überall zu finden gewesen, auch auf dem Balkon und dem Geländer, dazu aber auch die Abdrücke zahlreicher anderer Personen.
So musste man letztendlich von einem tragischen und unerklärlichen Unfall ausgehen. Etwas anderes war nicht zu beweisen gewesen.
Was das Ganze noch entsetzlicher machte, war die Tatsache, dass die junge Frau in der achten Woche schwanger gewesen war. Doch ob sie das überhaupt gewusst hatte, konnte ebenso wenig ermittelt werden wie der Erzeuger des Kindes. Kein Schwangerschaftstest oder Ultraschallbild befand sich in der Wohnung und einen Gynäkologen hatte das spätere Opfer ebenfalls nicht aufgesucht. Der Kindsvater stand zwar nicht unter Tatverdacht, dennoch blieb es rätselhaft, warum er sich nach dem Tode der Frau nicht bei der Polizei gemeldet hatte. Die armenische Herkunft der jungen Frau erlaubte viele Deutungsmöglichkeiten. Es konnte ja immerhin sein, dass dieser Mann sich gar nicht mehr in Deutschland aufhielt und nicht einmal von seiner Vaterschaft wusste. Vieles war denkbar und am Ende war das Rätsel nicht zu lösen.
In der Wohnung befanden sich, außer denen von Yasmine, noch die Fingerabdrücke mehrerer anderer Personen, unter Anderem die des Hausmeisters Siegfried A., der jedoch privat in keiner Weise mit der jungen Frau in Verbindung gebracht werden konnte. Die anderen Spuren ließen sich nicht zuordnen. In einem der Zeitungsberichte wurde ein Kriminalhauptkommissar Lüdke erwähnt, der die Ermittlungskommission geleitet hatte. Der letzte Bericht, den ich zu Yasmines Fall fand, datierte vom September. Ein Boulevardblatt hatte einen ziemlich belanglosen Beitrag darüber gebracht, wie es dem Paketboten und dem Fahrer des Holztransporters inzwischen ergangen war. Der erstere fuhr unverdrossen seine Briefe und Päckchen aus, wenn auch in einem anderen Bezirk, während der Lastwagenfahrer auf unabsehbare Zeit arbeitsunfähig war. Wenn eine Berichterstattung dieses Niveau erreicht hatte, durfte man getrost davon ausgehen, dass es zu dem eigentlichen Fall keine neuen Erkenntnisse gab.
Nachdem ich fieberhaft gelesen hatte und von einem Artikel zum nächsten gesprungen war, klappte ich den Laptop zu.
Dass ich von dem ganzen tragischen Fall nichts mitbekommen hatte, konnte ich mir nur dadurch erklären, dass ich im vergangenen Sommer so tief in mein privates Drama verstrickt gewesen war. Das Drama um Yasmine war tagelang durch alle Zeitungen gegangen, aber ich hatte keine Erinnerung daran. Da konnte man wieder einmal sehen, wie relativ Unglück war. Im letzten Jahr hatte ich doch tatsächlich gemeint, von allen Menschen auf der Welt am schlechtesten da zustehen. Dabei hatten sich sozusagen vor meiner Haustür wesentlich schlimmere Dinge abgespielt und ich hatte es nicht einmal wahrgenommen.
Was mir nicht aus dem Kopf gehen wollte und seltsamerweise die schaurigen Details überlagerte, war das Foto aus dem letzten Bericht. Ich sah es die ganze Zeit vor mir: Der lächelnde Paketbote posierte, was auf mich reichlich und noch dazu unpassend gestellt
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