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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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stumm hervor und konnte wieder frei atmen. Der Brechreiz verschwand und das Rauschen verklang. Ich rang mir so etwas wie ein beruhigendes Lächeln ab.
    „Alles gut, ich war nur eben … in Gedanken, entschuldige. Darf ich mal einen Schluck trinken?“, fragte ich und griff nach dem Becher, der neben ihrem Bett stand. Mein Mund war wie ausgetrocknet.
    „In Gedanken? Du bist so weiß, als hättest du einen Geist gesehen!“
    Ich verschluckte mich und hustete. Hedda richtete sich, soweit sie konnte, im Bett auf und klopfte mir auf den Rücken.
    „Mensch, Nora, was ist denn bloß mit dir?“
    Ich trank noch einen kleinen Schluck und stellte den Becher wieder beiseite.
    „Nichts, alles in Ordnung. Man kann sich ja mal verschlucken, jetzt mach doch nicht so ein Drama daraus.“
    Hedda sah mich prüfend an. Ihre Antwort klang etwas beleidigt.
    „Ist schon gut, du musst ja nichts sagen. Aber dass etwas ist, das sehe ich, mir machst du nichts vor.“
    „Ich bin nur etwas fertig. Zuviel Sekt, ich habe immer noch Kopfschmerzen“, log ich und wollte nur noch fort. Nach Hause. Irgendwie wurde mir das alles zu viel. Aber was war mit meinem Versprechen Marc gegenüber? Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Versprechen? Marc war tot und ich schuldete ihm überhaupt nichts. Ich erhob mich und wollte sagen, dass ich jetzt gehen würde, weil ich … Stimmen von Verstorbenen hörte und nicht wusste , ob ich den Verstand verlor, weil das alles mir Angst machte und ich einfach nur wollte, dass es wieder wurde wie früher. Alles zurückdrehen, meinetwegen bis zu dem Tag, an dem ich Daniels Jackett zur Reinigung bringen wollte. Ich würde den Brief ungelesen herausnehmen und zu seinen Sachen legen, ich würde Daniel nicht heulend und tobend zur Rede stellen, wir würden uns nicht wochenlang gegenseitig zerfleischen, nur um dann letztlich doch die unvermeidliche Trennung zu vollziehen. Dann wäre ich immer noch mit ihm zusammen, ich wäre am zweiten Weihnachtstag nicht bei Hedda und Marc mitgefahren, wir wären nicht mitten in der Nacht auf der verschneiten Autobahn von einem Lastwagen abgedrängt, worden, Marc würde noch leben und ich müsste diese Stimmen nicht hören.
    Halt. Es war unmöglich. Ob ich den Brief an Daniel nun gefunden hätte oder nicht, seine Neue war schwanger gewesen, es war nur eine Frage der Zeit, wann alles ohnehin herausgekommen wäre. Es gab nichts, was ich hätte anders machen können und was irgendetwas geändert hätte. Ich hörte die Stimmen der Verstorbenen, dies war nun also eine Tatsache, der ich ins Auge sehen musste, ob ich wollte oder nicht.
    „Nora?“
    Ich stand auf.
    „Mir geht es gerade nicht so gut“, hörte ich mich mit dünner Stimme sagen.
    „Leg dich da drüben auf das Bett, los, mach schon, ich kann dir nicht helfen , wenn du jetzt umkippst. Oder soll ich klingeln, damit eine Schwester kommt?“
    Ich schüttelte den Kopf und wankte mit letzter Kraft zu dem anderen Bett, streifte die Schuhe ab und kletterte hinauf.
    „Alles gut, mach dir keine Sorgen, mir ist nur etwas schwindelig. Geht gleich wieder“, flüsterte ich und rollte mich auf der Decke zusammen. Ich schloss die Augen. Aus der Ferne, oder als wäre ich unter Wasser, hörte ich nach einer Weile Stimmen.
    „… lassen Sie sie bitte … ruht sich aus … mein Mann … nicht leicht für uns …“
    „. . ausnahmsweise …. Arzt holen … na gut … bis später …“
    Als ich aufwachte, war der Raum dunkel bis auf ein Nachtlicht neben Heddas Bett. Sie schlief. Ich legte mich auf die Seite, so dass ich meine Schwester betrachten konnte. Sie lag auf dem Rücken, wegen des Gipsverbandes an ihrem Bein, so konnte ich ihr schönes, vertrautes Profil betrachten. Ich war nicht erstaunt, dass mich in diesem Moment das Rauschen überfiel und mein Körper zu vibrieren begann. Zum ersten Mal ängstigte es mich überhaupt nicht. Wenn ich es nicht ändern konnte, dann konnte ich dieses merkwürdige Gefühl ebenso gut willkommen heißen. Vor ein paar Jahren hatte ich, um Daniel zuliebe mit dem Rauchen aufzuhören, eine Zeit lang Entspannungsübungen gemacht. Ich wusste noch gut, wie das ging. Mein Atem wurde flach und regelmäßig. Ich wurde leicht und ganz weich, ich zerfloss. Es fühlte sich an, als öffnete sich meine Schädeldecke oder vielmehr mein ganzes Ich. Nora war nur noch eine Hülle, die auf einer zerknitterten Bettdecke in einem städtischen Krankenhausbett lag. Ich war offen und eins mit allem. Marcs Worte kamen in Fetzen

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