Nora Morgenroth: Die Gabe
dass Hedda aus ihrer Lethargie erwacht war und bereit schien, sich den Tatsachen zu stellen. Hoffentlich würde sie mit der Zeit auch ihre Schuldgefühle überwinden.
Als hätte sie in meinen Gedanken gelesen, sagte Hedda in diesem Moment: „Weißt du, was mich einfach nicht loslässt? Dass wir uns noch gestritten haben, bevor wir dich abgeholt haben, du weißt schon, um zu Mutter zu fahren. Die letzten Worte, die Marc und ich allein gewechselt haben, waren böse. Und warum? Wegen Geld. Ich meine, echt, es war doch nur Geld. Ich habe damit gedroht, ihn zu verlassen und nun ist er tot. Es ist alles meine Schuld.“
Ich erhob mich von dem Besucherstuhl, setzte mich auf die Bettkante und griff nach Heddas Hand.
„Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Hedda, es war ein Unfall, und wenn jemand schuld ist, dann der Fahrer des LKW. Du weißt ganz genau, was die Polizei dazu gesagt hat.“
„Ja, ja, ich weiß das alles. Trotzdem, ich habe am Steuer gesessen. Wenn ich besser reagiert hätte …“
„Ja, und wenn wir nicht noch ausgegangen wären? Das war schließlich meine Idee gewesen. Dann wären wir längst zuhause gewesen. Oder wenn Mutter uns nicht zu diesem dämlichen Gänsebraten eingeladen hätte, dann wäre auch nichts passiert.“
Ich blickte meiner kleinen, unglücklichen Schwester in die Augen.
„Mutter ist schuld“, sagten wir wie aus einem Mund und grinsten uns schief an.
Ich beugte mich vor und nahm Hedda vorsichtig in den Arm. Dann lehnte ich mich zurück und sagte, ehe ich überhaupt darüber nachgedacht hatte: „Ich bin sicher, Marc gibt sich ebenso die Schuld an allem, was zwischen euch passiert ist wie du.“
Hedda sah mich erstaunt an.
„Woher willst du das wissen? Du musst ihn jetzt nicht in Schutz nehmen, nur weil er tot ist. Ich weiß, dass du niemals viel von ihm gehalten hast. Das macht auch nichts, das war mir immer egal. Aber weißt du, was wirklich schlimm ist?“
Ich schüttelte den Kopf. Sie biss sich auf die Lippen, schluckte ein paarmal in dem Versuch, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen, dann brach sie doch wieder in Tränen aus. Schluchzend langte Hedda nach der Packung Papiertaschentücher, die auf ihrem Nachttisch lag.
„Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich ihn überhaupt noch liebe. Also, geliebt habe. Manchmal konnte ich Marc einfach nicht mehr ertragen. Ich konnte ihm einfach nicht verzeihen, dass er so schwach geworden ist. Und dann all diese Heimlichkeiten und Lügen, ich hatte es einfach so satt!“
„Aber das ist doch völlig normal, ich will ja auch nicht bestreiten, dass ihr Probleme hattet“, gab ich zurück. „Aber trotzdem, ich meine, hast du mir nicht gestern noch erzählt, dass du alles genau durchgerechnet hast, damit ihr das Haus behalten könnt? Ihr wolltet doch zusammen bleiben, trotz allem!“
Hedda gab ein grunzendes Geräusch von sich. Ihre Stimme klang bitter, als sie antwortete: „Ja, genau, das Haus. Ich glaube, mir lag am Ende mehr an dem Haus als an Marc. Aber das werde ich jetzt auch verlieren. Alles war genau durchgerechnet, das stimmt, und zwar bis auf den letzten Cent. Doch dafür brauchten wir Marcs Gehalt. Ohne ihn hätte es gar nicht klappen können. Ich hätte mich nicht trennen können, ohne das Haus zu verlieren. Jetzt ist Marc tot und das Haus verliere ich auch. So sieht es aus.“
„Oh“, sagte ich. Mehr fiel mir nicht ein und ich saß stumm daneben, als meine Schwester erneut von einem Weinkrampf geschüttelt wurde. Es gab keine Worte, die Hedda in diesem Moment trösten konnten, also saß ich nur da und streichelte ihre Hand. Irgendwann kam ein Pfleger herein, maß geschäftsmäßig den Blutdruck meiner Schwester und ihre Körpertemperatur, ohne den anhaltenden Tränenfluss auch nur zu kommentieren. Er hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, da spürte ich einen warmen Hauch in meinem Nacken. Meine Fingerspitzen kribbelten und dann kam das Rauschen.
… d u musst … sagen … alles verzeihe …
Ich kann nicht …
…d u musst … für Hedda … Hedda …
„Nora, was ist denn mit dir, du bist ja ganz blass.“
… kann nicht gehen … meine Schuld ... Schuld…
Das Rauschen wurde stärker, Marc dagegen immer leiser, er war jetzt kaum noch zu verstehen. Zugleich spürte ich, wie eine Welle der Übelkeit mich überrollte. Es fühlte sich an, als würde mein Magen nach außen gestülpt wie ein dicker Gummischlauch. Ich bekam nicht mehr richtig Luft.
„Nora, was ist mit dir?“
Ich tue es , stieß ich
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