Nora Morgenroth: Die Gabe
wollte ich nicht weiter nachdenken, so weit war ich damals noch nicht. Offenbar nahmen nur die Menschen Kontakt auf, die mir im Leben nahe gestanden hatten, denen ich wichtig war. Nicht auszudenken, wenn ich alle Verstorbenen hören könnte, da würde ich ja wahnsinnig werden. Ich versuchte, es so hinzunehmen, wie es war, überließ mich dem Rauschen, wenn es kam, und wenn es nicht kam, lebte ich mein Leben so normal wie möglich. Es hatte ja auch etwas Tröstliches. Die mir lieben Verstorbenen waren nicht einfach fort, ganz so, wie es in diesem alten Gedicht heißt, von dem ich nicht weiß, wer es verfasst hat : Ich bin nicht dort unten, ich schlafe nicht . Der Tod, der mich als Kind oft so geängstigt hatte, dass ich abends nicht einschlafen konnte aus Angst, nicht wieder aufzuwachen, verlor seinen Schrecken.
Das Einzige, was mich in dieser Zeit beunruhigte, waren die Visionen, die mich in der Wohnung immer wieder überkamen. Immer wieder sah ich mich fallen und wusste nicht, was ich dagegen tun sollte. Ich konnte mir diesen Zustand einfach nicht erklären. Das änderte sich ganz plötzlich an einem Samstagmorgen Anfang Februar, als ich wieder einmal schweißgebadet in meinem Bett erwachte. Da wusste ich es. Und fragte mich, wie ich nur so begriffsstutzig hatte sein können. Die Vormieterin, natürlich! Der Hausmeister hatte mir vor Wochen davon erzählt: Die arme Frau war vom Balkon gestürzt – das musste es sein! Anscheinend hatte ich die ganze Geschichte so erfolgreich aus meinem Bewusstsein verdrängt, dass ich sie nicht mit diesen Bildern vom Fallen in Verbindung gebracht hatte. Wie elektrisiert schleuderte ich die Bettdecke zur Seite und lief hinüber ins Wohnzimmer. Ich schaltete meinen Laptop an, der auf dem kleinen Couchtisch stand, den ich mir immerhin inzwischen zugelegt hatte, dann erst eilte ich ins Bad. Während das Gerät hochfuhr, ging ich auf die Toilette und bereitete mir einen Kaffee aus Instantpulver zu. Eine Kaffeemaschine fehlte immer noch, aber das machte mir nichts aus, ich trank den löslichen Kaffee ganz gern. Ich schüttete reichlich Zucker und Milch hinein und kehrte zum Sofa zurück.
Eine Stunde später wusste ich mehr, als ich eigentlich hatte wissen wollen, oder vielmehr wäre es mir im Nachhinein lieber gewesen, wenn ich es nicht gewusst hätte. Es war ein entsetzlicher Unfall gewesen, den die weiteren unglücklichen Umstände noch schlimmer machten. Es war wie in einem Horrorfilm. Was ich mir aus verschiedenen Zeitungsartikeln und Foren im Internet zusammengesucht hatte, ergab Folgendes: Die junge Frau, die als Yasmine A. bezeichnet wurde, hatte erst kurze Zeit im Loft gewohnt, als es zu dem Unfall kam. Es war Mitte Juli letzten Jahres gewesen, als sie ohne erkennbare Ursache von der Dachterrasse gestürzt war – von meiner Dachterrasse. Allem Anschein nach war sie einfach so, ohne jeden Grund, wie vom Himmel gefallen. Was dann geschah, war so unglaublich, dass man denken mochte, ein makabrer Regisseur hätte es sich ausgedacht, nur würde es dann niemand glauben, weil es eben zu unwahrscheinlich war. Und dennoch war es genau so gewesen, wenn die Polizei auch einige Zeit benötigte, um die Geschehnisse zu rekonstruieren und in eine chronologisch sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Das Opfer war nach dem Sturz nicht auf das Pflaster vor dem Gebäude gestürzt, sondern auf das Dach eines Lieferwagens, der ausgerechnet in jenem Moment genau vor dem Haus hielt. Der Postbote hatte nur kurz an dieser Stelle gehalten, um seine Lieferungen auszutragen, an diesem Tag war es ein Paket an einen Mieter im dritten Stock. Da das Paket per Nachnahme ging, folgte der Bote dem Mieter kurz in dessen Wohnung, da dieser sein Portemonnaie suchen musste. Der Mieter kannte den Boten flüchtig, daher unterhielten sie sich einige Minuten lang. Falls jemand sich zum Zeitpunkt des Sturzes im Loft aufgehalten haben sollte, hätte er ohne Weiteres das Gebäude verlassen können, ohne dem Paketboten im Treppenhaus zu begegnen. Dieser verließ schließlich das Haus, setzte sich in seinen Lieferwagen und fuhr los, nicht ahnend, welch tragische Fracht er transportierte. Das Dach des Wagens war hoch genug, dass es von Passanten nicht einzusehen war.
Niemand hatte von dem Sturz oder Aufprall etwas gehört oder gesehen. Der Paketbote fuhr also los, mit der Leiche auf dem Dach - vielleicht hatte die junge Frau zu diesem Zeitpunkt sogar noch gelebt, auch das ließ sich später nicht mehr mit Gewissheit feststellen.
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