Nora Morgenroth: Die Gabe
zuversichtlichen Lächeln, hauchte ein Abschiedsküsschen auf die vor Vorfreude glühende Wange meiner Schwester und sprang aus dem Wagen. Sie winkte und fuhr schwungvoll davon.
Als ich im fünften Stock aus dem Fahrstuhl trat und bereits den Schlüssel zu meiner Wohnung in der Hand hielt, überlegte ich es mir anders. Ich ging ein Stockwerk hinunter, drückte auf den Klingelknopf neben dem schnörkeligen Schild mit der Aufschrif t E. Mülle r und wartete. Kurz darauf hörte ich, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Ein rundes Gesicht unter silbrigen, etwas zerdrückten Löckchen erschien im Türspalt.
„Oh, Frau Müller, habe ich Sie geweckt? Es tut mir so leid. Soll ich später wieder kommen? Es ist nichts Wichtiges, ich wollte nur etwas fragen, aber das kann auch warten. Entschuldigen Sie, ich habe gar nicht auf die Uhr gesehen, es ist wohl noch Mittagszeit.“
„Liebes Kind, das macht gar nichts, nur reden Sie nicht so viel auf einmal, ich bin noch nicht richtig wach. Kommen Sie!“
Die alte Dame trat beiseite und ließ mich eintreten, dann verriegelte sie die Tür wieder sorgfältig und schlurfte in ausgetretenen Pantoffeln vor mir her in das Wohnzimmer . Auf dem Sofa lag eine zerwühlte Wolldecke. Frau Müller griff danach und faltete sie umständlich zusammen.
„Nehmen Sie doch bitte Platz, ich freue mich über Ihren Besuch. Es kommt ja sonst fast niemand mehr. Ich bin nur noch nicht ganz bei mir.“
Genau so sah sie auch aus. Es tat mir unendlich leid, dass ich die arme Frau aus ihrem Schlaf gerissen hatte. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte sie: „Ich schlafe tagsüber ohnehin zu viel und dann bekomme ich in der Nacht wieder kein Auge zu. Es war gut, dass Sie mich aufgeweckt haben, wirklich. Ich müsste mich nur kurz einmal etwas frisch machen und einen Kaffee würde ich auch gern anbieten, ich weiß nur gerade nicht …“
Sie stockte und blickte sich suchend um. Es war, als hätte sie den Anschluss an ihre eigenen Gedanken verloren. Ich kannte das, bei meiner Großmutter war es zum Schluss auch so gewesen. Nicht nur zerstreut, sondern abwesend auf eine Weise, als hätte sie sich damals schon nicht mehr so ganz in unserer Welt befunden. Vielleicht war es wirklich so gewesen. Darum hatte sie zum Schluss immer häufiger nicht mehr mitbekommen, was um sie herum geschah.
Ich blickte die alte Dame an, die verloren in ihrem eigenen Wohnzimmer stand und empfand plötzlich einen unsäglichen Schmerz. Woher diese Gewissheit auch immer kam, ich wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Behutsam nahm ich ihr die zusammengefaltete Wolldecke aus der Hand und sagte: „Frau Müller, warum gehen Sie nicht ins Bad, machen sich ganz in Ruhe ein wenig frisch und ich mache uns einen Kaffee, wenn Sie erlauben. Gehen Sie nur, ich finde mich schon zurecht.“
Zehn Minuten später saßen wir uns mit unseren dampfenden Tassen gegenüber. Ich hatte in der Küche noch eine halbvolle Keksdose gefunden und einen Leuchter mit zwei Kerzen auf das Tisch chen zwischen uns gestellt. Es war richtig gemütlich. Eine Weile schwiegen wir, was sehr angenehm war, bis Frau Müller behaglich seufzte.
„So ist es schön, das habe ich viel zu selten! Aber ich will nicht jammern, so ist es eben, wenn man alt wird, dann sind da nicht mehr so viele, die man kennt. Was wollten Sie mich denn nun eigentlich fragen?“
Sollte ich wirklich fragen, was mich bewegte, die alte Dame womöglich aufregen? Aber was sollte ich sonst sagen, weswegen ich gekommen war?
„Ich … äh ...“, stotterte ich, dann setzte ich mich auf und stellte meine leere Tasse auf das Tischchen.
„Es ist … wegen des Unfalls. Oben, Sie wissen schon.“
Frau Müller starrte mich an. Hatte sie mich nicht verstanden? Doch dann nickte sie.
„Das musste ja kommen, ich meine, dass Sie es früher oder später herausfinden würden. Aber machen Sie sich keine allzu großen Gedanken, es hat gar nichts mit Ihnen zu tun. Ich habe anfangs auch gedacht, ich könnte hier nicht wohnen bleiben, weil es einfach so schrecklich gewesen ist.“ Sie schüttelte den Kopf. „Stellen Sie sich vor, keiner hat etwas mitbekommen. Ich war ja zu der Zeit zuhause, wie meistens, aber ich habe ferngesehen, da kam dieser alte Film, noch in schwarzweiß. Den hatten mein Felix und ich vor vielen Jahren einmal im Kino gesehen. Sonst schaue ich ja nicht mitten am Tag fern. Aber den Film wollte ich nicht verpassen. Und da habe ich dem Hans Albers zugesehen, wie der den Mädels
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