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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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es ist einfach zu dumm. Sie werden denken, die Alte hat nicht mehr alle Sinne beisammen“.
    „Nein, ganz bestimmt nicht. Vielleicht beruhigt es mich, wenn Sie es mir sagen, dann hören vielleicht auch die schlimmen Träume auf.“
    Das Gesicht der alten Dame wurde auf einen Schlag bleich.
    „Frau Müller, wollen Sie sich lieber wieder setzen? Ist Ihnen nicht gut?“
    Da sie nicht antwortete, sprintete ich in den nächstgelegenen Raum, die Küche, und holte einen Klappstuhl heran. Die alte Dame ließ sich wie eine willenlose Gliederpuppe dirigieren. Sie setzte sich. Ob sie einen Arzt brauchte? Was, wenn … doch ehe ich den Gedanken zu Ende verfolgen konnte, regte sie sich, der Blick war wieder klar.
    „Ich weiß jetzt, dass ich den Namen doch einmal hier im Haus gehört habe. Aber das war ganz sicher nicht an dem Tag, als Yasmine starb. Das muss schon länger her sein. Vielleicht hat ihn jemand im Treppenhaus gerufen, das kann sein. Es kann Yasmine gewesen sein, die ihn gerufen hat, ja, es war wohl eine Frauenstimme. Mehr weiß ich nicht. Jetzt bin ich müde. Ich glaube, ich lege mich noch etwas hin.“
    „Ist auch wirklich alles in Ordnung mit Ihnen, brauchen Sie noch etwas?“
    Nein, sie wollte nichts mehr und ich merkte, dass ich wirklich gehen sollte. Später, zurück in meiner Wohnung, schlich ich, wie die sprichwörtliche Katze um den heißen Brei, um den Laptop herum.
    Ich schaltete den Wasserkocher ein und goss mir einen Tee auf, mit viel Zucker. Dann setzte ich mich an das Gerät. Zuerst checkte ich meine Mails. Nichts von Sybille, die anderen interessierten mich nicht. Ich tauchte erneut in die Berichte über Yasmines tödlichen Sturz ein, bis ich jeden Artikel fast auswendig kannte. Es war wie ein Sog, dem ich nicht widerstehen konnte. Schließlich versuchte ich, in allen möglichen Suchkombinationen eine Verbindung zwischen Yasmine, ihrem Tod und einem John herzustellen, obgleich ich wusste, dass es zu keinem Ergebnis führen konnte. Für „John“ gab es mehrere Millionen Suchergebnisse, auch zu Unfällen überall auf der Welt, jedoch keinen einzigen sinnvollen Eintrag im Zusammenhang mit Yasmine Abassian. Enttäuscht klappte ich den Laptop zu. Dann griff ich nach meinem Teebecher und ging in die Küche. Mir war etwas schwindelig, was mich daran erinnerte, dass ich seit dem Brot, das Hedda mir am Morgen geschmiert hatte, nichts mehr gegessen hatte. Sollte ich vielleicht Franka anrufen und fragen, ob wir uns treffen und etwas essen gehen wollten? Nein, nicht schon wieder, wir hatten uns erst gestern gesehen.
    Seitdem ich bei Daniel ausgezogen war, hatten sich meine sozialen Kontakte auf einen erschreckend kleinen Kreis reduziert. Verbittert und wütend wie ich gewesen war, hatte ich ihm unseren gemeinsamen Freundeskreis kampflos überlassen. Vermutlich waren die jetzt bei Daniel und seine r Virgini a genauso zu Gast wie früher bei uns, Daniel und Nora, Nora und Daniel. Diese beiden Namen waren für mich untrennbar miteinander verbunden gewesen und ich hatte tatsächlich angenommen, dass es für immer so bleiben würde.
    Mein Selbstmitleid schwoll an und überschwemmte alles. Wen hatte ich denn noch? Bei der Arbeit sah ich Monika und Franka, Hedda würde demnächst wegziehen und Mutter hatte ich seit der Trauerfeier nicht mehr gesehen oder gesprochen. Meine häufigsten Gesprächspartner waren in den letzten Wochen Omi und Papa gewesen, die beide tot waren. Jeder normale Mensch würde das unter Selbstgesprächen verbuchen. Ging es noch einsamer?
    Wenigstens kam Sybille bald zurück. Dann tat ich endlich das, woran ich schon die ganze Zeit gedacht hatte. Was hatte ich schon zu verlieren?
    Ich öffnete die Terrassentür und schritt der Kälte trotzend auf Strümpfen über die Holzbohlen. Inzwischen war es dunkel geworden. Der Boden war trocken, eisiger Wind wehte. Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, das zu tun, was ich tat, aber ich schritt auf die Balustrade zu, als würde ich von einer unsichtbaren Kraft gezogen. Unmittelbar vor dem Geländer fiel mir zum ersten Mal auf, wie hoch es war, es reichte mir beinahe bis zur Brust. Durch das Licht, das aus dem Wohnzimmerfenster fiel und einen Teil der Terrasse erhellte, konnte man die silbernen Schweißnähte auf dem schwarzen Metall mühelos erkennen. Das Geländer war um mindestens dreißig Zentimeter erhöht worden. Jetzt wusste ich, warum. Niemand würde einfach so darüber stürzen, auch nicht, wenn man vielleicht gestoßen wurde. Man müsste schon

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