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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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hinüber klettern.
    Von irgendwo wehte Musik zu mir herauf. In der Ferne hörte ich ein Auto hupen. In den umstehenden Gebäuden waren vereinzelte Wohnungen erleuchtet, sie waren aber zu weit entfernt, als dass ich Einzelheiten hätte ausmachen können. Es waren nur helle Rechtecke. Meine Hände legten sich wie von selbst auf das kalte Metall des Geländers, dann presste ich meinen Körper dicht gegen die Stäbe und sah hinunter. Nichts passierte, ich spürte keinen Schwindel. Ich schloss die Augen und atmete tief und regelmäßig ein und aus.
    Meine Finger wärmten das Metall des Geländers, es glühte und zerschmolz. Meine Füße vibrierten, als sollte ich gleich davonfliegen und in meinen Ohren rauschte es, als stünde ich inmitten eines Sturmes.
    … Nora … mein Kind.
    Papas Liebe durchflutete meine Brust mit Wärme. Sie lief als beruhigendes Brummen durch meinen Körper. Ich spürte sie mit jeder Faser.
    Papa !
    Sein liebes Gesicht war plötzlich so nah, ich konnte es ganz deutlich sehen. Ich wollte ihn berühren, in seinen Armen verschwinden wie in meiner Kindheit. Nirgendwo war ich jemals sicherer gewesen. Und sein Geruch, ich wusste noch, wie Papa gerochen hatte, wie …
    Das Wohlgefühl seiner Nähe wich einem eisigen Schrecken. Das war nicht mehr Papa , den ich sah. Wer war dieser Mann, der mich so voller Wut anblickte? Was hatte ich getan, um ihn so gegen mich aufzubringen? Ich hatte Angst, aber da war noch etwas, ein anderes Gefühl, das mich verwirrte. Liebte ich diesen Mann? Wie konnte das sein, wenn ich ihn doch gar nicht kannte? Er war mir fremd und dennoch hatte ich das Gesicht schon gesehen.
    … n ein, John … nein, bitte nicht!
    Ich schrie und fiel und fiel. Im letzten Moment, bevor ich auf dem gelben Rechteck aufschlug riss ich die Augen auf. Ich krabbelte auf allen Vieren in die Wohnung zurück, ich schluchzte und zitterte am ganzen Körper. Irgendwie schaffte ich es, die Tür zu verriegeln und Hedda anzurufen. Ich musste nur die erste  Kurzwahltaste auf meinem Telefon drücken, die Eins. Als sie kam, kauerte ich auf dem Fußboden neben der Wohnungstür. Zum Glück hatte ich meiner Schwester einen Ersatzschlüssel für den Notfall gegeben. Ich weiß nicht, ob ich noch in der Lage gewesen wäre, die Tür zu öffnen. Hedda verfrachtete mich ohne weitere Umstände ins Bett. Sie lag neben mir, als ich am nächsten Morgen sehr früh erwachte. Ich stand leise auf und duschte. Als meine Schwester aufwachte, hatte ich bei der Tankstelle um die Ecke bereits Brötchen und die Sonntagszeitung geholt und saß bei meinem dritten Kaffee im Wohnzimmer. Den Laptop hatte ich wohlweislich beiseitegeschoben. Ich würde mich mit dem Thema Yasmine nicht mehr beschäftigen, das hatte ich mir fest vorgenommen, es reichte wirklich. So konnte es nicht weiter gehen. Am nächsten Tag musste ich wieder arbeiten. Ich würde meine Kraft brauchen, um den Alltag zu bewältigen. Außerdem sollte ich meine Energie lieber auf die Jobsuche verwenden, ich durfte mich nicht länger in diesen düsteren Visionen verlieren, woher sie auch immer kamen.
    Irgendwann tauchte Heddas verwuschelter Schopf kurz in der Tür auf.
    „Ich gehe mal eben duschen, dann reden wir gleich, ja? Wo hast du die Handtücher?“
    „Im Schlafzimmer, in der kleinen Kommode.“
    „Ist die Dusche denn inzwischen eigentlich repariert? Oder muss ich mit Verbrühungen rechnen?“
    „Nee, das ist schon längst gemacht.“
    Ich nickte zerstreut in ihre Richtung und blätterte die Zeitung um. Da sah ich das Bild, ganz groß auf der nächsten Seite, dem Lokalteil. Ich erkannte ihn sofort.
    … John …
    Mein Magen zog sich vor Sehnsucht zusammen, gleichzeitig traf mich die Gewissheit wie ein Schlag. Er war der Mann, den ich in der letzten Nacht auf dem Balkon gesehen hatte. Ich schrie auf und warf die Zeitung zu Boden, als hätte ich mir die Finger daran verbrannt. Da lag der Artikel gut sichtbaraufgeschlagen und ich konnte nicht an dem Bild vorbeisehen. Der Mann lächelt, hebt grüßend die Hand, ganz offensichtlich eine Pose für die Fotografen, an seiner Seite eine blonde Frau, ebenfalls lächelnd, sie winkt und ist unübersehbar schwanger. Darunter der Text : Stadtrat John van der Brelie fordert Oberbürgermeister heraus .
    Das markante Gesicht, der entschlossene Blick, dazu die dezent grauen Schläfen im ansonsten dunklen Haar, sie dagegen eher hell und strahlend, skandinavisch, wie man sich vielleicht eine dänische Prinzessin vorstellte – ein schönes

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