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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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Visionen geplagt zu werden. Ich tat mir schrecklich leid und wünschte mich weit weg, wobei ich gar nicht hätte sagen können, wohin. Nach Hause? Wo war das überhaupt?

 
     
SIEBEN
    Natürlich sprachen wir auf der Rückfahrt nicht über Yasmine und ihren Sturz von meinem Balkon, auch nicht von meinen Alpträumen.
    In der Wohnung, die zur Besichtigung stand, hatten Thilo und eine etwas hausbacken wirkende junge Frau gewartet, die er uns als seine Cousine vorstellte. Diese Bettina erwähnte ungefähr eintausend Mal ihren Verlobten, zu dem sie ziehen wollte, weshalb sie nun kurzfristig einen Nachmieter suchte. Hedda warf mir hinter ihrem Rücken immer wieder augenrollende Blicke zu. Ansonsten war meine Schwester von der Wohnung höchst angetan und beeilte sich, Bettina zu ihrer bevorstehenden Hochzeit zu beglückwünschen.
    „Ach, wir haben noch gar keinen Termin“, zwitscherte Bettina. „Aber mein Verlobter meint …“
    Und so ging es unablässig weiter, während wir die knapp siebzig Quadratmeter inspizierten. Ich war nur halb bei der Sache. Während Hedda sich mit den beiden an den Küchentisch setzte, um die Einzelheiten für die Übernahme des Mietvertrages zu besprechen, trat ich auf den schmalen Balkon. Mein Blick fiel auf das gegenüberliegende Haus. Altbau. Was für ein Unterschied zum Ausblick von meinem Loft. Dann beging ich den Fehler, nach unten zu sehen. Wir befanden uns nur im dritten Stock, aber es reichte, dass mir augenblicklich schwindelig wurde. Es war, als zog mich etwas in einen Strudel. Ich schloss die Augen und sah im Fallen das gelbe Rechteck auf mich zukommen.
    … John…
    „Schöner Blick, oder?“
    Ich öffnete die Augen. Zuerst wusste ich nicht mehr, wo ich war. Und wer war dieser Typ? Dann fiel es mir wieder ein. Heddas neue Wohnung. Ich löste meine Hände, die sich an dem schmiedeeisernen Geländer festgekrallt hatten und trat vorsichtig einen Schritt zurück.
    „Ja, toll“, krächzte ich, drehte mich um und stolperte in die Küche. Hedda sah auf und strahlte mich glückselig an.
    „Ich habe die Wohnung, ist das nicht einfach phantastisch?“
    „Sie ist ja ganz bleich“, sagte Bettina. „Bist du nicht schwindelfrei? Mir geht das genauso, deswegen habe ich den Balkon auch nie benutzt. Zum Glück hat unsere neue Wohnung gar keinen. Und später wollen wir dann sowieso bauen, auf dem Land, das ist auch besser für die Kinder und so. Mein Verlobter sagt immer …“
    Ich wollte nicht mehr hören, was Bettinas Verlobter sonst noch zu sagen hatte und verabschiedete mich unter dem Vorwand, noch dringend etwas besorgen zu müssen. Hedda sollte nachkommen, wenn sie fertig war. Es war mir egal, was die anderen dachten, Thilo und Bettina, sogar Hedda, die mir einen finsteren Blick zuwarf. Immerhin war ich mitgekommen und sie hatte die Wohnung, was wollte sie also mehr?
    Und darüber und über nichts anderes sprachen wir, oder vielmehr Hedda, auf der ganzen Rückfahrt. Ihre Einladung, mir noch ein spätes Mittagessen zum Dank für die Begleitung zu spendieren, lehnte ich dankend ab.
    „Bist du sauer?“, fragte sie, als wir vor meinem Haus parkten. Müde schüttelte ich den Kopf. Ich wollte einfach nur noch meine Ruhe haben.
    „Nein, natürlich bin ich nicht sauer, warum auch?“
    „Na, weil ich dann bald weg bin. Du, ich habe da genug Platz, du kannst wirklich erstmal mit zu mir ziehen. Und wenn dir das so viel ausmacht mit dieser alten Geschichte, mit dieser Ayshe oder wie sie hieß, dann sei doch froh, wenn du da schnell raus kannst. Und einen Job finden wir für dich auch!“
    „Sie heißt Yasmine“, sagte ich und war nun tatsächlich sauer.
    „Ist ja gut, dann eben Yasmine. Ich glaube, du musst da wirklich raus, es tut dir nicht gut, hier zu wohnen. Und vielleicht bekommst du den doofen Daniel dann endlich auch aus dem Kopf. Hey, wir machen da richtig einen drauf, wenn du mit mir nach Vallau ziehst. Wir werden einen Mordsspaß haben!“
    „Ich denke darüber nach“, gab ich zurück und wusste im gleichen Moment, dass ich nichts dergleichen tun würde.
    Auf meiner Liste von Dingen, die ich mir gerade am allerwenigsten für mein Leben vorstellen konnte, stand die Vorstellung, mit meiner neuerdings so lebenslustigen Schwester zusammen zu ziehen, ganz oben. Auf keinen Fall würde ich das tun. Ich wusste, ich sollte mich eigentlich für sie freuen, aber im Moment ging sie mir einfach nur auf die Nerven. Und jetzt wollte ich vor allem allein sein. Ich zwang mich zu einem

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