Nora Morgenroth: Die Gabe
ich müsste dann bald los, die warten doch.“
Die Wohnung war ihr von Marcs ehemaligen Studienkollegen vermittelt worden, der bei der Trauerfeier gewesen war. Seine Cousine suchte einen Nachmieter oder so ähnlich. Die genauen Zusammenhänge hatte ich wieder vergessen. Hedda war ganz wild auf die Wohnung, weil sie angeblich sehr günstig sein sollte und noch dazu in einem schönen Viertel lag. Und sie würde kurzfristig frei werden.
Eben war ich noch entschlossen gewesen, mich zu drücken. Aber ich hatte Hedda doch versprochen, da ss ich mitkommen würde. Also gab ich mir einen Ruck.
„Nee, ist schon gut, es geht schon. Ich hatte nur was Falsches gegessen. Es geht schon wieder.“
„Meinst du echt? Du, das wäre super! Mir wäre es schon lieber, wenn wir die Wohnung zusammen ansehen könnten. Weißt du was, ich rufe Thilo schnell an und frage, ob es schlimm ist, wenn wir eine Stunde später kommen. Dann kannst du noch duschen und wir reden in aller Ruhe während der Fahrt, okay?“
Sie tippte bereits auf ihrem Handy herum. Ein nagelneues Smartphone übrigens, und das bei meiner Schwester, die diesen Dingen früher nie etwas abgewinnen konnte. Es schien, als wollte sie ihr altes Leben oder den Teil, der überhaupt noch übrig geblieben war, so konsequent wie nur möglich ablegen. Seitdem meine Schwester ihre Krücken losgeworden war, kam sie mir wie ein kleiner Terrier vor, immer in Bewegung. Alles nahm sie mit dieser ungeheuren Energie in Angriff, die ich früher nicht an ihr gekannt hatte. Während ich noch unentschlossen in meinem durchgeschwitzten Schlafshirt herum stand und vermutlich nicht besonders gut roch, beendete meine neuerdings so patente Schwester das Telefonat.
„Alles klar, kein Problem, Thilo hat gesagt, wir sollen uns ruhig Zeit lassen. Das heißt aber nicht, dass du jetzt trödeln sollst.“ Sie lachte. Aus unerfindlichen Gründen machte sie einen richtig glücklichen Eindruck.
„Los, hopp, unter die Dusche. Ich mache dir einen Kaffee und ein Brot, in zwanzig Minuten geht es los!“
Tatsächlich dauerte es etwas mehr als eine halbe Stunde , ehe wir in Heddas Wagen saßen. Während sie routiniert durch die Straßen steuerte, plapperte sie in einem fort von dem neuen Job und der Wohnung. Und von dem Interessenten, der das Haus wahrscheinlich kaufen würde. Es war schon so gut wie sicher. Außerdem hatte Hedda bereits einen neuen Job als Sekretärin in Vallau in Aussicht und die neue Wohnung war in Reichweite gerückt. Wie es schien, lief auch alles andere bei ihr rundum gut. Sie hatte die Reha abgeschlossen und bewegte sich wieder annähernd normal. Wenn alles so lief, wie sie es sich vorstellte, würde Hedda schon in einigen Wochen umziehen.
Ich gab überwiegend einsilbige Antworten, was sie immerhin auch schon bemerkte, als wir auf der Autobahn waren.
„Also, was ist mit dir?“, fragte sie und tätschelte mit einer freien Hand mein Bein.
„Denkst du eigentlich auch noch manchmal an Marc“, entfuhr es mir gereizter, als ich beabsichtigt hatte. Diese ungezügelte Lebenslust ging mir plötzlich derartig auf die Nerven, dass ich mich nicht beherrschen konnte.
„Holla, was ist denn mit dir los?“, fragte Hedda und zog ihre Hand zurück. „Ich dachte, du bist froh, dass ich dir nicht mehr jeden Tag die Ohren voll heule. Wochenlang redest du auf mich ein, dass Marc nicht wollen würde, dass ich mich schuldig fühle. Nun geht es mir wieder gut und dann ist das auch nicht richtig?“
„Entschuldige“, gab ich zerknirscht zurück. Sie hatte ja Recht. Nur weil ich mit meinem Leben nicht so vorankam, durfte ich auf ihre Freude nicht neidisch sein. Und das mit den Stimmen und Yasmine … das hatte nun gar nichts mit Hedda zu tun. Trotzdem nagte es an mir.
„Es ist nur … mir geht es im Moment nicht so toll. Entschuldige, dass ich dich so angemeckert habe. Natürlich bin ich froh, dass es dir besser geht.“
„Schon gut. Aber was ist denn nur mit dir? Ich weiß, finanziell sieht es bei dir nicht so toll aus. Warum kommst du nicht mit? In Vallau findest du sicher viel leichter einen neuen Ganztagsjob. Wir suchen dir auch eine neue Wohnung, oder du ziehst am Anfang erstmal zu mir. Das kriegen wir doch alles hin. Oder ist es immer noch wegen Daniel?“
„Ja … nein. Ach, ich weiß nicht. Es ist irgendwie auch wegen der Wohnung …“
„Was ist damit?“, fragte Hedda und warf mir einen raschen Seitenblick zu. „Die Gegend ist nicht die tollste, aber das wusstest du ja auch
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