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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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wichtiger war eine andere Erkenntnis. Sie reifte in mir, während ich die Straßen entlang stöckelte. Ich würde nicht davon laufen. Was ich im Trotz zu meiner Schwester gesagt hatte, wurde wahr. Ich würde Yasmine nicht im Stich lassen, was auch immer das bedeutete und warum auch immer das so war.
 

 
ACHT
    Am Ende der darauffolgenden Woche war ich keinen Schritt weitergekommen. Ich hatte mehrmals versucht, unter einem Vorwand telefonisch in das Büro des Stadtrats John van der Brelie durchgestellt zu werden. Vergebens, der Mann war nicht zu sprechen. Ich war mir nicht einmal ganz darüber im Klaren gewesen, was ich zu ihm gesagt hätte, wenn es gelungen wäre.
    Guten Tag, Herr Stadtrat, ich habe neulich von Ihnen geträumt, da wollte ich mal fragen, ob Sie eine Yasmine Abassian kennen und sie zufälligerweise vom Balkon gestoßen und ermordet haben. Nicht? Ach so, dann entschuldigen Sie bitte die Störung.
    Es war immerhin ein Versuch gewesen , mit ihm in Kontakt zu treten, wenn auch vielleicht etwas naiv. Ich wusste nicht, wie ich sonst weiterkommen sollte.
    Ersatzweise hatte ich meine freie Zeit genutzt, um mehr über diesen Mann zu erfahren. Ich war an einem Nachmittag nach Vallau gefahren, hatte die Parteizentrale besucht und mir jede Broschüre und Informationsmappe geben lassen, die für interessierte Bürger zu haben war. Darüber hinaus hatte ich Stunden in Internetforen verbracht, um herauszufinden, was politische Gegner und Freunde über diesen Mann zu sagen wussten oder zu wissen glaubten, der erst vor wenigen Jahren fast aus dem Nichts auf der politischen Bühne aufgetaucht war. Zunächst einmal war er reich, sogar sehr reich, der Erbe eines großen Industrieunternehmens. Ursprünglich stammte die Familie aus Holland, lebte aber schon seit mehreren Generationen in der Nähe von Vallau. John van der Brelie hatte in seiner Jugend deutsche und amerikanische Internate besucht und residierte nun mit seiner Ehefrau, die einem hiesigen Adelsgeschlecht entstammte, auf einem Landgut in der Nähe von Erzfeld. Erst vor drei Jahren war er in den Stadtrat gewählt worden. In einigen Wochen stand die Wahl des Oberbürgermeisters an und van der Brelie würde als Kandidat antreten. Inzwischen galt er sogar schon als Favorit, dem es gelingen konnte, den langjährigen Amtsinhaber abzulösen, was seine Partei in den vorigen Wahlen nicht geschafft hatte. Dem Mann wurden außerdem Ambitionen in Richtung Berlin nachgesagt. Für seine Partei galt er offenbar bereits jetzt als das neue Talent, das neue Gesicht vielleicht auch demnächst auf Bundesebene. Seine Gegner nannten ihn aalglatt und machtversessen, während seine Befürworter den frischen Wind lobten, den der Mann als Quereinsteiger mit in die Politik brachte.
    Nachdem es mir nicht gelang, mit dem Stadtrat in Verbindung zu treten, fasste ich einen anderen Plan. Mir fiel ein, dass ich den Namen eines Polizisten in einem der Zeitungsberichte gelesen hatte. Ich ging alles noch einmal durch und wurde fündig: Kriminalhauptkommissar Oliver Lüdke, 48, Polizeiinspektion Erzfeld.
    Ich würde mit diesem Kommissar sprechen, der Yasmines Tod untersucht hatte. Der hatte schließlich ein Interesse daran, dass der Fall gelöst wurde. Natürlich besaß ich nicht den geringsten Beweis dafür, dass dieser van der Brelie etwas mit ihrem Tod zu tun hatte, doch Yasmine musste ihn zumindest gekannt haben, davon war ich überzeugt. Den nächsten Montagvormittag hatte ich mir im Buchladen freigenommen, um in der Frühe in die Polizeiinspektion zu gehen. Dafür würde ich dann am Nachmittag arbeiten. Ich wusste sogar schon, in welchem Stockwerk die Abteilung der Kriminalpolizei untergebracht war.
    Über meine Recherchen hinaus tat ich nicht viel. Hedda hatte mittlerweile mehrere entschuldigende Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen, ebenso auf der Mailbox meines Handys, doch ich rührte mich nicht. Erst, nachdem sie mir Mutter und sogar Daniel auf den Hals gehetzt hatte, die zu beruhigen und abzuwimmeln ich am Telefon einige Mühe hatte, sandte ich ihr eine SMS:
    Mir tut es auch leid. Ich brauche nur etwas Zeit für mich, aber alles ist in Ordnung, melde mich wieder.
    Dann war Ruhe. Vermutlich war Hedda ohnehin mit der Planung ihres Umzugs beschäftigt. Immerhin musste sie einen ganzen Hausstand auflösen, Marcs Sachen entsorgen und was noch alles. Mir war das recht. Meine eigene Wohnung verwahrloste indessen, aber ich hatte für nichts anderes mehr Zeit oder Energie.

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