Nora Morgenroth: Die Gabe
Paar. Es gab für mich keinen Zweifel, auch wenn der Mann hier so gewinnend lächelte. Ich hatte ihn wütend gesehen. Er war es, den ich in der letzten Nacht auf dem Balkon gesehen hatte.
Aber – was hatte dieser Mann mit Yasmine zu tun oder mit meiner Wohnung?
Hedda rief aus dem Badezimmer: „Alles in Ordnung mit dir?“
„Alles gut … ich habe nur … ich habe mich nur verbrannt. Alles okay.“
Bis Hedda frisch geduscht aus dem Bad kam und sich gut gelaunt an den kleinen Frühstückstisch setzte, hatte ich mich einigermaßen beruhigt, die Zeitung sauber zusammengefaltet und weggeräumt.
„Isst du nichts?“, fragte Hedda, während sie sich ein Brötchen griff und es aufschnitt.
„Ich hab schon, vorhin, bin schon eine Weile wach“, log ich und legte meine Serviette auf den unbenutzten Teller.
„Was war denn nun los gestern? Du hast ja ganz schrecklich ausgesehen, nicht reagiert, nix gesagt. Ganz im Ernst, Nora, ich war kurz davor, den Notarzt anzurufen.“
„Ach, mal wieder zu tief ins Glas geschaut, tut mir leid, dass ich so eine Panik gemacht habe.“
„Nee, das kannst du mir nicht erzählen, du warst nicht betrunken“, widersprach Hedda und biss in ihr dick mit Käse und Wurst belegtes Brötchen. Jetzt bereute ich, die Brötchen überhaupt gekauft zu haben. Mir wurde übel, als ich ihr beim Essen zusah. Ich bemühte mich, unauffällig an Hedda vorbei zu sehen. Ihr Appetit und die gute Laune waren unerträglich, dazu diese Tatkraft und Energie. Am liebsten wäre ich in mein Bett gekrochen und hätte mir die Decke über den Kopf gezogen. Aber es half alles nichts, so schnell ließ die neue Hedda nicht locker. Was war passiert? Früher war ich doch immer diejenige gewesen, die zwischen uns den Ton angegeben hatte. Und jetzt war sie einfach nicht zu stoppen. Sie redete und redete.
„Komm, mach mir doch nichts vor. Es ist diese verflixte Wohnung, hab ich Recht? Jetzt hörst du mir mal zu, große Schwester. Als ich im Krankenhaus lag und auch danach, da hast du dich um mich gekümmert und jetzt geht es mir wieder gut, also kann ich mich um dich kümmern. Du kündigst deinen Job und ziehst mit mir nach Vallau, keine Widerrede. Und bis es soweit ist , kannst du bei mir wohnen, ich meine, im Haus. Übrigens will die Familie, die neulich zum dritten Mal da war, es nun wirklich kaufen. Das bin ich also auch los. Alles wird gut, Nora, glaub mir, du musst nur hier raus!“
Eben noch war ich überzeugt gewesen, es in diesen vier Wänden keinen Tag länger auszuhalten, ohne wahnsinnig zu werden . Je länger der Redeschwall meiner Schwester andauerte, umso fester wurde mein Widerstand. Dann machte ich einen Fehler. Ich sagte genau das, was mir bei dem Gedanken, hier auszuziehen, durch den Kopf schoss: „Ich kann Yasmine nicht im Stich lassen.“
Hedda setzte zu einer Entgegnung an, dann klappte ihr Mund zu. Eine Sekunde später hatte sie sich gefasst, warf das angebissene Brötchen auf den Teller und sprang auf.
„Was ist nur mit dir los? Nora, das kann doch wohl nicht dein Ernst sein! Yasmine? Du kanntest sie doch überhaupt nicht. Das arme Mädchen ist tot, das ist tragisch. Klar. Du hast nur das Pech, zufälligerweise die nächste Mieterin hier zu sein, das ist alles. Das mag einen stören oder auch nicht, aber wenn es dir so zusetzt, dann ist das doch nur ein Grund mehr, schnellstens von hier zu verschwinden!“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und kam mir vor wie ein aufmüpfiges Schulmädchen, während Hedda mich plötzlich an Mutter erinnerte. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich eine richtige Abneigung gegen meine kleine Schwester. Ich war immer die Große gewesen, hatte mich verantwortlich gefühlt, vor allem nach Papas Tod. Natürlich hatten wir uns als Kinder auch gestritten, sogar geprügelt, aber immer wieder versöhnt und keine Sekunde lang hätte ich meine Liebe für sie verleugnet. Wir waren einander doch immer so nahe gewesen.
Ich stand nun ebenfalls auf .
„Du … dafür bist du aber erstaunlich schnell zur Tagesordnung übergegangen. Das kann eben nicht jeder .“
„Ich verstehe dich nicht, Nora. Erst erzählst du mir die ganze Zeit, ich soll nach vorne sehen und mir keine Vorwürfe machen . Und wenn ich mein Leben dann neu einrichten will, dann ist das auch falsch?“
„Nein, so habe ich das ja auch nicht gemeint.“
„Wie denn dann?“
„Ich weiß nicht, ich meine nur … man trauert doch…“
„Trauer?“ Hedda wurde immer lauter. „Erzähl du mir
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