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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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sich manchmal doch um Nuancen veränderte. Die ältere Dame dort bekam den charmanten, jedoch vollkommen neutralen Blick ab, ebenso die junge Mutter, die ihren vielleicht vierjährigen, inzwischen etwas quengeligen Sohn an der Hand führte. Dann der Vater, der mit seiner halbwüchsigen Tochter gekommen war, die ziemlich gelangweilt dreinblickte. Sie war ausnehmend hübsch, von so einer lässigen, wohl noch unbewussten Schönheit, dass sie sogar mir aufgefallen war. Ihr Vater wurde ebenso übersehen wie fast alle anderen, die Tochter jedoch nicht. Ich erkannte den Blick, der so kurz war, dass man schon genau hinsehen musste, um die leichte Veränderung zu bemerken. Yasmine heulte auf. Die Gier war nur für den Bruchteil einer Sekunde aufgeblitzt, aber das hatte genügt. Wir beide hatten sie gesehen. So hatten seine Augen immer gefunkelt, wenn Yasmine tanzte. Und sie hatte es für Liebe gehalten. Ich biss die Zähne zusammen.
    Yasmine… vertrau mir … Yasmine … beruhige dich
    Dann war ich an der Reihe. Ich trat schweigend vor. Wie bei allen anderen hob er den Kopf. Ich suchte seinen Blick und als er ihn eine Spur fragend erwiderte, da wusste ich, dass ich seine Aufmerksamkeit hatte. War das jetzt Yasmine oder war ich es? Ich neigte den Kopf leicht zur Seite und fuhr mir mit der Zungenspitze über die Lippen. Ich hatte alle Zeit der Welt. Hier gab es nur John und mich. Das Buch hielt ich noch an meine Brust gedrückt, dort, wo der Ausschnitt viel Haut freiließ. Ich wartete, bis er auf das Buch sah, dann nahm ich es herunter und beugte mich vor. Sein Blick blieb an mir kleben, nur ganz kurz. Der Stadtrat räusperte sich, dann war das neutrale Lächeln wieder da.
    „Was … äh, was darf ich für Sie schreiben?“
    Wie in Zeitlupe reichte ich ihm das Buch über den Tisch, das noch ganz warm war von meiner Haut. Als er es ergriff, strich mein rechter Zeigefinger ganz leicht über seine Hand, dann erst ließ ich los.
    „Schreiben Sie: für Yasmine. Soll ich es buchstabieren? Y – A – S – M – I – N – E.“

 
     
ELF
    Mein Aufritt be i Hummel & Soh n hatte nicht viel eingebracht, außer einem Buch mit den Fingerabdrücken des Stadtrates. Dass ich in ein Wespennest gestochen hatte, bekam ich erst Tage später zu spüren.
    Nachdem ich die Buchhandlung verlassen hatte, war ich zum Auto zurückgelaufen . Zitternd blieb ich noch eine ganze Weile sitzen, ohne loszufahren. Das vorher, das war nicht ich gewesen, so war ich nicht – so lasziv und herausfordernd, so mutig.
    Schließlich steckte ich das Buch in eine leere Plastiktüte, die sich im Fußraum des Beifahrersitzes anfand und machte mich auf den Heimweg. Als ich nach Hause kam, war Sybille fort. Wer weiß, wenn ich sie noch angetroffen hätte, dann hätte ich ihr vielleicht alles erzählt. Stattdessen fand ich die sauber zusammengefaltete Gästedecke auf dem Sofa und ihre saubere, runde Schrift auf dem gleichen Zettel, den ich in der Frühe hinterlassen hatte : War schön mit dir! Ich rufe dich nachher an, Bill e .
    Ich verstaute das Päckchen mit dem Buch ganz hinten in meinem Kleiderschrank. Von da an wusste ich auch nicht mehr weiter. Was hatte ich denn erwartet? Dass John van der Brelie sich vor mir auf die Knie werfen und unter Tränen ein Geständnis ablegen würde? Natürlich war nichts dergleichen geschehen. Der Mann war wirklich ein Meister der Selbstbeherrschung. Das Lächeln war keine Sekunde aus seinem Gesicht gewichen, es saß dort wie festgetackert, auch als ich Yasmines Namen nannte. Allein seine Augen hatten sich für einen kurzen Moment verengt, ehe er den Kopf neigte und etwas nahezu Unleserliches auf die erste Seite des Buches warf. Ich hatte es entgegengenommen und war gegangen. Als ich den Laden verließ, war meine ganze Entschlossenheit wie weggeblasen gewesen. Ich hatte mich nur noch kraftlos und leer gefühlt. Seit jenem Tag spürte ich Yasmine immer seltener. Kaum spürte ich den Hauch ihrer Nähe, war sie schon wieder fort. Nur selten noch verschmolzen wir miteinander. Wenn ihre Klagen dann doch über mich hinweg wehten, fühlte ich, dass die Trauer um John hinter ihr lag. Ich war froh darüber, auch wenn es vielleicht bedeutete, dass sie sich damit von dem Ort des Geschehens und also auch von mir entfernte. Nichts wünschte ich ihr mehr, als dass sie Frieden fand. Doch sie war immer noch untröstlich. Es war für mich nicht schwer zu erraten, weshalb sie noch immer nicht ganz loslassen konnte. Yasmine litt um die Eltern, die

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