Nora Morgenroth: Die Gabe
mit unserem kleinen Verkaufsraum, Hummel ging nach Themen sortiert über drei Etagen. Die Stuhlreihen, die man auf einer Fläche in der Mitte des Raumes aufgestellt hatte, waren bereits zum größten Teil besetzt. Ich zog es ohnehin vor, stehen zu bleiben und suchte mir einen Platz mit Blick auf das kleine Podest. Dort stand ein Stuhl hintereinem rechteckigen Tischchen, darauf ein Wasserglas und eine kleine Karaffe. Und das Buch. John van der Brelie: Immer bergau f . Ich wusste natürlich, worum es ging, Verlag und Partei hatten die Veröffentlichung mit viel Getöse angekündigt und Auszüge im Internet veröffentlicht. Darin zog der Herr Stadtrat ziemlich ungeniert Parallelen zwischen seiner Leidenschaft, dem Wandern, dem Leben an sich, der deutschen Wirtschaft und der Politik im Allgemeinen, vor allem aber zu seiner eigenen Karriere. Wie man, wenn man nur mit Hingabe und Ehrgeiz dabei war, einen mühsamen Schritt nach dem anderen tat, die höchsten Gipfel erklimmen konnte. Und das hatte er ja ganz offensichtlich vor.
Ich war mir nicht sicher, ob es wirklich mein Herz war, das diesen schmerzhaften Aussetzer hatte . John van der Brelie trat aus dem Hintergrund und stieg auf das Podest. Einige der Zuschauer klatschten. Ich schnappte wohl hörbar nach Luft, denn die Dame zu meiner Rechten nickte mir zu und sagte: „Ja, er ist toll, nicht?“
D er Applaus klang gedämpft, als hätte ich Watte in den Ohren. Herr Hummel Senior, den ich vom Sehen kannte, trat ebenfalls auf das Podest und stellte seinen Gast höchstpersönlich vor. Als wäre ich plötzlich schwerhörig geworden, bekam ich nur Wortfetzen mit: … Sohn der Stadt … Hoffnungsträger … Inspiration… Freude …Leidenschaft… Pflicht … Blablabla. ..
Schließlich nahm Stadtrat van der Brelie an dem Tischchen Platz und schlug das Buch auf. Ich starrte auf die Lippen, die Yasmine liebkost und dann verleugnet hatten. Die Menschen um mich herum hingen auch an diesen Lippen, wenn auch aus gänzlich anderen Gründen. Ich musste die ganze Zeit daran denken, was sie wohl sagen würden, wenn sie wüssten … wie leidenschaftlich dieser Mann sich ganz anderen Dingen gewidmet hatte. Das Rauschen hüllte mich ein und übertönte fast Johns kraftvoll modulierte Stimme. Immer wieder wurde er unterbrochen von Applaus. Einige Zuhörer nickten begeistert.
John hatte die Zuhörer bereits auf seiner Seite, es war ganz offensichtlich und er wusste es genau. Ich sah es seinen Mundwinkeln an, die selbstgefällig nach oben zeigten, wenn er auch Bescheidenheit mimte. Als sein Glas einmal leer war, trat eine junge Frau vor, vielleicht eine Assistentin, die sich zusammen mit anderen Mitarbeiterin im Hintergrund gehalten hatte. Sie trat neben den Stadtrat, zu nahe, da war ich mir ganz sicher. Meine geschärften Sinne nahmen eine heimliche Vertrautheit wahr in der Bewegung, wie sie neben ihn trat, das Glas füllte, während sie einschenkte, ihm leicht den Kopf zuneigte. Yasmines Eifersucht schmeckte bitter. Sie wusste im gleichen Augenblick wie ich, dass diese Frau mehr für ihn war. Sie war jung und auf eine exotische Weise hübsch, schlank, mit langen Haaren und einem dunklen Teint.
Warum hast du eigentlich eine so blonde, bieder aussehende Frau geheiratet, John? Aber das passt auch einfach besser zu deinem heimatverbundenen Auftreten als eine mandeläugige Schönheit, nicht wahr? Und dass deine Angetraute eine geborene von Hochberg ist, hat wahrscheinlich auch nicht geschadet. Dumm nur, wenn man seine Finger nicht bei sich behalten kann und eigentlich die anderen begehrt, die jungen, dunklen, rassigen, nicht wahr, John?
Als die Leute aufstanden und die Menge sich in Bewegung setzte, schloss ich mich mechanisch dem Strom an. Nur wenige der Besucher verließen den Buchladen vorzeitig. Die meisten stellten sich geduldig an der Kasse an, einige nahmen gleich sogar zwei Exemplare. Ich hatte es so eingerichtet, dass ich zu den letzten in der Schlange gehörte. Ich beobachtete ihn aufmerksam. Jedes Mal, unmittelbar bevor der Nächste an den Tisch trat und sein Exemplar zum Signieren vorstreckte, hob der Mann den Kopf. Sein Lächeln war immer gleich, strahlend, er zeigte die ebenmäßigen Zähne. Er erkundigte sich nach einem Wunsch für die Widmung und wechselte manchmal noch zwei, drei höfliche Worte. Dann schrieb er mit einem teuer aussehenden Füllfederhalter das Gewünschte nieder. Wenn man ihn lange genug beobachtete, konnte man feststellen, dass die professionelle Miene
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