Nora Roberts
mir
die Steine selbst.«
»Nein! Ich
schaffe das schon. Tun Sie ihr nichts. Sie haben geschworen, dass sie niemals
in die Sache hineingezogen wird.«
»Das hat
sie selbst getan. Vierundzwanzig Stunden.«
4
Jessica war völlig ratlos. Sie saß allein
am Strand, das Kinn auf die Knie gestützt, und sah zu, wie die aufgehende Sonne
ihre rosa Strahlen über dem Meer ausbreitete. In der Nähe jagte Ulysses die
Wellen und hüpfte jedes Mal kläffend zurück, wenn die Brandung auf ihn
zurollte. Er hatte den Versuch schon vor einer Weile aufgegeben, Jessica dazu
zu animieren, für ihn Stöckchen zu werfen.
Sie hatte
schon immer gern bei Sonnenaufgang am Strand gesessen. Das half ihr beim
Nachdenken. Das Kreischen der Möwen, das dumpfe Tosen der Wellen, die gegen die
Felsen donnerten, hatten ihre Gedanken bisher stets so weit geklärt, dass sie
eine Antwort finden konnte. Diesmal nicht. Dabei war es nicht so, dass sie
niemals daran gedacht hätte, zu heiraten, gemeinsam ein Haus zu bewohnen, eine
Familie zu gründen – aber sie hatte niemals eine klare Vorstellung von ihrem
zukünftigen Mann gehabt. Könnte es Michael sein?
Sie war
gern mit ihm zusammen, unterhielt sich gern mit ihm. Sie hatten viele
gemeinsame Interessen. Aber ... ja, es gab ein Aber, dachte sie und ließ
die Stirn auf die Knie sinken. Ein großes Aber. Er liebte sie. Und sie
war blind dafür gewesen. Wo war ihr Feingefühl geblieben?, fragte sie sich mit
einer Mischung aus Schuldgefühl und Enttäuschung. Wie konnte etwas – ein
Geschäft – so wichtig für sie werden, dass es ihre Sinne vernebelte? Schlimmer
noch, was sollte sie jetzt tun?
Slade
stapfte leise vor sich hinfluchend die hölzernen Stufen zum Strand herab. Wie,
zum Kuckuck, sollte er eine Frau beschützen, die schon vor Sonnenaufgang auf
den Beinen war? Sie mache einen Strandspaziergang, hatte Betsy ihm gesagt.
Allein an einem verlassenen Strand, dachte Slade grimmig, allem und jedem
hilflos ausgeliefert. Musste sie ständig auf Trab sein, immer irgendetwas tun?
Warum hatte sie nicht das träge Dummchen sein können, als das er sie sich vorgestellt
hatte?
Dann
entdeckte er sie – zusammengekauert hockte sie im Sand, mit hängendem Kopf und
hängenden Schultern. Wäre da nicht der weizenblonde Haarschopf gewesen, hätte
er geschworen, es sei eine andere Frau. Die Jessica, die er kannte, hielt sich
kerzengerade und war immer auf dem Weg irgendwohin – meistens im Laufschritt –
und saß nicht da wie ein Häufchen Elend. Beunruhigt vergrub er die Hände in den
Jackentaschen und ging zu ihr.
Sie hörte
ihn nicht kommen, registrierte aber die Anwesenheit eines menschlichen Wesens
und wusste auch sofort, um wen es sich handelte. Langsam hob sie den Kopf und
starrte wieder auf den Horizont.
»Guten
Morgen«, sagte sie, als er neben ihr stand. »Schon so früh auf?«
»Genau wie
du.«
»Du hast
bis spät in die Nacht gearbeitet. Ich habe deine Schreibmaschine klappern
hören.«
»Verzeihung.«
»Nein.« Ein
flüchtiges Lächeln. »Ich höre das gern. Geht es gut voran mit dem Buch?«
Slade sah
hoch, als eine Möwe lautlos über ihre Köpfe segelte. »Eine Weile lief es ganz
gut, gestern Abend.« Irgendwas stimmt nicht, dachte er. Er machte Anstalten,
sich neben sie in den Sand zu hocken, blieb dann aber stehen. »Was ist mit dir,
Jess?«
Sie
antwortete nicht gleich, drehte aber den Kopf zu ihm herum und
studierte sein Gesicht. Wie würde er sich verhalten, fragte sie sich, wenn er
beabsichtigte, eine bestimmte Frau zu heiraten? Würde er geduldig abwarten,
einen günstigen Zeitpunkt abpassen und sich dann damit zufrieden geben, wenn
sie ihn bäte, auf ihre Antwort zu warten? Der Anflug eines Lächelns huschte
über ihre Lippen. Nein, niemals.
»Hattest du
viele Frauen?«, fragte sie.
»Was?«
Sie schenkte
seinem fassungslosen Gesichtsausdruck keinerlei Beachtung, sondern wandte das
Gesicht ab und fixierte wieder den
Horizont. »Ich wette, ja«, murmelte sie. »Du bist ein sehr
sinnlicher Mann.« Der Himmel über dem Meer färbte sich rot und golden. Während
sie sprach, beobachtete sie, wie die
Strahlen der Sonne sich durch die Wolken bohrten.
»Ich kann
meine Männer an drei Fingern abzählen«, fuhr sie in einem Tonfall fort, der
eher abwesend als vertraulich klang.
»Der Erste,
das war im College, aber die Beziehung war so kurz, dass man sie kaum
dazurechnen kann. Er schickte mir Nelken und las mir Shelley vor.«
Sie lachte
leise und legte das Kinn wieder auf ihre Knie.
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