Nora Roberts
zog sich hinter die Leinwand zurück.
»Worüber
denn? Wie albern ich mich fühle, vielleicht?«
»Warum
gehen wir heute Abend nicht segeln? Wir schnorren ein Abendessen bei Anna und
fahren danach raus.«
»Ich kann
jetzt nicht ans Abendessen denken und ganz gewiss nicht an deine Schwester! Die
Leute werden mich so sehen. Mich. Völlig nackt.«
»Die Leute
werden das Bild einer wunderschönen Frau sehen.«
»Meine
Mutter!«, entfuhr es Dru voller Entsetzen.
»Wie geht
es ihr eigentlich? Verträgt sie sich immer noch mit deinem Vater?«
»Soweit ich
weiß, schon. Sie sind tatsächlich nach Paris geflogen. Im Augenblick haben sie
wegen mir wohl ziemlichen Kummer.«
»Es ist
nicht leicht, andere Menschen glücklich zu machen.« Seth zeichnete die Wölbung
ihrer Schulter, den Ansatz ihres Halses, die schlanke Silhouette ihres Oberkörpers.
»Wann bist du das letzte Mal in Paris gewesen?«
»Vor
ungefähr drei Jahren. Zur Hochzeit meiner Tante. Sie lebt dort – eigentlich
außerhalb von Paris, aber sie besitzt auch noch eine Stadtwohnung.«
In den
nächsten Minuten plauderten sie über Paris, und Seth stellte zufrieden fest,
dass Dru sich allmählich entspannte. Dann begann er ernsthaft zu malen – den
Kontrast von Rot auf weißer Haut, das Schimmern des Lichts, den zarten Farbton
des Lakens und die dunklen Schatten an den Stellen, wo es Falten schlug. Seth
wollte die Eleganz ihrer geöffneten Hand einfangen und die starken Muskeln
ihrer Wade.
Sie bewegte
sich ein wenig, aber er ermahnte sie nicht, ihre Pose zu korrigieren. Die
beiläufige Unterhaltung, die er mit ihr führte, fand in einem kleinen Teil
seines Hirns statt. Der Rest war in das Bild eingetaucht, das er mit Pinsel
und Farbe schuf.
Hier war
sie wieder, seine Feenkönigin, aber jetzt war sie erwacht, jetzt war sie sich
ihrer Schönheit bewusst.
Nach einer
Weile dachte Dru nicht mehr darüber nach, ob ihre Pose sittsam war oder nicht.
Es war ein Erlebnis, Seth bei der Arbeit zu beobachten, und es verschaffte ihr
ein Hochgefühl. Ob er wohl wusste, welch eine Intensität über ihn kam? Wie sich
seine Augen veränderten und eine gewisse Grimmigkeit ausstrahlten, die in einem
direkten Gegensatz zu seinem Geplauder stand?
Ob er sich
wohl selbst so sah? Bestimmt. Er musste sich einfach der fließenden Bewegungen,
der Konzentriertheit bewusst sein, die so sehr Teil seiner Technik waren. Und
er musste sich ebenso seiner sexuellen Ausstrahlung dabei bewusst sein, genauso
wie der Schönheit und der Macht, die auch seinem Modell das Gefühl vermittelten,
schön und mächtig zu sein.
Dru vergaß
das Zeitlimit, das sie sich gesetzt hatten. Welche Fantasie auch immer er in
seinem Kopf erschaffen hatte, sie war viel zu sehr ein Teil davon geworden, um
den Zauberbann zu brechen.
Ob sich ein
Modell immer in den Künstler verliebte? Oder war es etwas Besonderes, dass sie
Seth gegenüber diese unglaubliche Vertrautheit empfand und dieses wahnsinnige
Verlangen?
Er war der
erste, der einzige Mann, dem sie sich völlig hingeben wollte, dem sie alles zu
geben bereit war – worum er sie auch bat. In diesem Moment begriff Dru, dass
die Liebe bedeuten konnte, einen Teil seines Selbst aufzugeben, und dieses
Wissen machte ihr Angst.
Was würde
von ihr übrig bleiben, wenn sie ihren Gefühlen nachgab?
Als sein
Blick über sie hinwegwanderte, als wolle er die Essenz dessen, was sie war,
absorbieren, begann sie zu zittern.
»Ist dir
kalt?« Seths Stimme klang ungeduldig. Dann, mit einem Mal, sprach er wie
verwandelt und viel freundlicher: »Entschuldige meinen Ton. Also, ist dir
kalt?«
»Nein. Ja.
Vielleicht ein bisschen. Ich bin ein wenig steif.« Er runzelte die Stirn,
blickte auf sein Handgelenk hinunter und
stellte fest, dass er wieder einmal keine Armbanduhr
umgelegt hatte. »Die Stunde dürfte herum sein.«
»Endlich.« Dru brachte ein
Lächeln zustande.
»Du
brauchst eine Pause. Möchtest du etwas Wasser haben? Oder Saft? Habe ich
überhaupt Saft gekauft?«
»Wasser
würde mir reichen. Darf ich mich jetzt aufsetzen?«
»Sicher.«
Zumindest blickte er jetzt nicht mehr sie an, sondern das Bild.
»Darf ich
sehen, was du bis jetzt gemalt hast?«
»Hm.« Er
legte den Pinsel ab und griff nach einem Lappen, ohne dabei auch nur für einen
Moment die Augen von der Leinwand zu nehmen.
Dru stieg
vom Bett, nahm ihren Morgenmantel von der Stuhllehne, hüllte sich darin ein und
ging zu ihm hinüber.
Das Bett
bildete den Mittelpunkt des Gemäldes, wobei der größte
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