Nora Roberts
du
geglaubt, ich würde dich dann weniger lieben?«
»Ich wollte
einfach nicht, dass du es erfährst.«
»Aber jetzt
weiß ich es, und ich habe den größten Respekt vor dem Menschen, der du
geworden bist. Du glaubst, das alles übersteige mein Fassungsvermögen, weil ich
in ganz anderen Verhältnissen groß geworden bin, aber da täuschst du dich.« Sie
hielt ihn ganz fest. »Und du täuschst dich noch in ganz anderer Hinsicht. Sie
hat dich nie brechen können, hat nie zerstören können, was du wirklich bist,
Seth.«
»Aber es
wäre ihr gelungen, wenn die Quinns nicht gewesen wären.« Er löste sich aus
ihrer Umarmung. »Lass mich zu Ende erzählen.«
»Komm, setz
dich.«
Seth folgte
ihr und nahm neben ihr auf der Bettkante Platz. »Während einer
Auseinandersetzung mit ihrer Mutter fand Gloria die Sache mit Ray heraus.
Damit hatte ihr Hass ein neues Ziel gefunden. Da war plötzlich jemand, den sie
für all die Ungerechtigkeiten, von denen sie glaubte, dass man sie ihr angetan
hatte, verantwortlich machen konnte. Er lehrte hier an der Universität, als sie
ihn aufspürte. Das war nach Stellas Tod, als meine Brüder schon erwachsen und
von zu Hause ausgezogen waren. Cam trieb sich in Europa herum, Phil lebte in
Baltimore, und Ethan hatte sein eigenes Häuschen in St. Chris. Gloria wollte
Geld von Ray.«
»Aber wie
konnte sie das verlangen? Er hatte doch von ihrer Existenz überhaupt nichts
gewusst.«
»Das
spielte keine Rolle. Sie verlangte Geld, und er zahlte. Sie wollte mehr, ging
zum Dekan und erfand eine Lügengeschichte über sexuelle Belästigung. Hat
versucht, mich als Rays Kind auszugeben. Das hat nicht funktioniert, aber
einiges fiel doch auf fruchtbaren Boden und setzte Gerüchte in Gang. Ray machte
einen Deal mit ihr. Er wollte mich von ihr wegholen, wollte sich um mich
kümmern.«
»Er muss
ein guter Mann gewesen sein. Jedes Mal, wenn irgendjemand in St. Chris seinen
Namen erwähnt, ist es voller Zuneigung und Respekt.«
»Ja, er war
wirklich großartig«, stimmte Seth ihr zu. »Gloria wusste, dass er ein guter
Mann war. Und das ist genau das, was sie an anderen Menschen verachtet und immer
für ihre Zwecke benutzt. Also hat sie mich an ihn verkauft.«
»Tja, das
war ein Fehler«, sagte Dru sanft. »Und andererseits das erste Anständige, was
sie jemals für dich getan hat.«
»Ja.« Seth
atmete tief durch. »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich wusste nicht,
wer Ray war, aber ich spürte, dass dieser große, alte Mann mich anständig
behandelte. Und ich wollte für immer bei ihm in diesem Haus am Wasser leben.
Wenn er mir etwas versprach, hielt er es auch, und er hat mir nie wehgetan. Er
hat mich an die Kandare genommen, aber das war in Ordnung. Ich hätte alles für
ihn getan. Bei ihm musste ich nie hungern. Er hatte einen Hundewelpen. Aber vor
allem war ich zum ersten Mal in meinem Leben vor ihr in Sicherheit. Und ich
hatte nicht vor, jemals zu ihr zurückzugehen. Ray hat mir versichert, dass ich
das auch nicht müsse, und ich habe ihm geglaubt. Aber dann ist sie wieder
aufgetaucht.«
»Weil sie
ihren Fehler eingesehen hatte.«
»Weil ihr
klar geworden war, dass sie mich zu billig verkauft hatte. Sie wollte mehr
Geld, hat gedroht, dass sie mich sonst wieder mitnehmen würde. Ray hat ihr mehr
Geld gegeben. Immer und immer wieder. Eines Tages hatte er einen Unfall auf
dem Nachhauseweg von einem dieser Treffen, bei denen er sie bezahlte. Einen
schlimmen Unfall. Sie riefen Cam aus Europa nach Hause. Ich erinnere mich noch
sehr gut an den Tag, als ich ihn zum ersten Mal sah, als ich sie alle drei
zusammen sah, wie sie um Rays Bett
im Krankenhaus standen. Sie haben Ray versprechen müssen, sich um mich zu
kümmern, mich bei sich zu behalten. Er hat ihnen weder von Gloria noch von den
genauen Umständen erzählt. Vielleicht hat er einfach nicht daran gedacht. Er
lag im Sterben und wollte nur noch dafür sorgen, dass ich in Sicherheit war. Er
hat darauf vertraut, dass sie sich um mich kümmern würden.«
»Er kannte
seine Söhne eben«, sagte Dru.
»Er kannte
sie in der Tat, und zwar viel besser als ich sie kannte. Als er starb, dachte
ich nämlich, sie würden mich loswerden wollen, und dass mir nur noch die Möglichkeit
bliebe, wegzulaufen. Ich habe nicht einen Moment lang geglaubt, dass sie mich
tatsächlich bei sich behalten würden. Sie kannten mich nicht, also konnte ich
ihnen ja wohl egal sein. Aber sie haben das Versprechen gehalten, das sie Ray
gegeben hatten. Sie haben ihre
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