Noras Erziehung
worden oder so was Ähnliches.»
«Das stimmt doch gar nicht.»
«Ach, wie schade. Ich wäre begeistert gewesen, wenn ich mal … Meinst du, ich könnte irgendwann mal zugucken?»
«Giles!»
«Nein? Auch gut. Sei nur vorsichtig. Nicht, dass das heutzutage noch so eng gesehen wird, aber trotzdem. Noch einen Port?»
Ich ließ den Kopf in meine Hände sinken. «Ja, bitte. Und jetzt erzähl mal von deinem Onkel.»
«Wenn du darauf bestehst. Er nimmt sich den Sommerüber manchmal des Nachwuchses an. Du weißt schon, Institutskram und so. Das ist eine echte Chance, an die wirklich hohen Tiere ranzukommen. Und du stehst auf seiner Liste.»
Das Angebot war einfach zu gut, um es abzulehnen. Aber das hieß, den ganzen Sommer über unabkömmlich zu sein. Und da ich keineswegs vorhatte, auf meinen Urlaub mit James und Violet zu verzichten, musste ich also um jeden Preis eine Ausrede und damit eine weitere Lüge finden. Aber Lügen, Geheimnisse und Giles’ «Diskretionen» schienen in meinem Leben eine immer größere Rolle zu spielen. Als Erstes musste ich herausfinden, ob James schon irgendwelche Termine gemacht hatte, um Sir Randolph dann sagen zu können, dass ich andere Verpflichtungen hätte, die ich unmöglich absagen könnte.
Und dann waren da ja auch noch die Gerüchte über die Beziehung zwischen mir und Violet. Zwar schien der Klatsch weitaus harmloser als die Realität, aber das war nur ein schwacher Trost. Was immer Giles auch meinte, ich selbst war mir überhaupt nicht sicher, ob die Presse, und damit die Öffentlichkeit, eine lesbische Affäre an der Uni als reine Trivialität abtun würde. Ich hatte meine Position gefährdet, und auf dem Weg zurück ins College fühlte ich nicht nur Bitterkeit, sondern auch ein gewisses Schuldgefühl in mir aufsteigen. Trotzdem brachte ich es nicht über mich, Violet dafür verantwortlich zu machen. Sie saß in ihrem Zimmer über dem Skizzenblock, und ihre Stirn war ganz kraus vor angestrengter Konzentration. Als sie mich bemerkte, blickte sie auf und lächelte mich an.
«Hi, Nora. Kaffee, irgendwas Stärkeres oder gleich ins Bett?»
«Etwas Stärkeres und dann ins Bett. Aber ich fürchte, es gibt ein Problem. Offenbar hat neulich jemand vom Ruderclub zwei und zwei zusammengezählt, und jetzt geht das Gerücht, wir beide wären zusammen. Selbst Giles weiß es schon.»
«Haben sie es endlich geschnallt, hm? Aber doch hoffentlich nicht in allen schmutzigen Details, oder?»
«Nein, ich glaube nicht. Sonst hätte Giles sicher was gesagt.»
«Dann ist es ja nicht so wild.»
Da war ich mir nun gar nicht so sicher. Trotzdem ging ich kurz in mein Zimmer, holte die Portweinflasche und goss uns zwei große Gläser ein, bevor ich weitersprach.
«Wir sollten auf jeden Fall vorsichtig sein. Und da ist noch eine Sache. Giles’ Onkel hat mir für den Sommer einen Job als Assistentin angeboten. Ich muss also so bald wie möglich wissen, wie die Termine für Frankreich liegen. Hat James schon gebucht?»
«Noch nicht, aber wir wollen recht früh fahren. Den August sollte man möglichst meiden. Da fahren die Franzosen nämlich alle selbst in Urlaub.»
«Dann also Ende Juli? Ich sag einfach, dass ich bis August beschäftigt bin. Diese ganze Sache mit dem Karrieremachen ist nicht so einfach, wie ich mir das vorgestellt habe.»
«Was meinst du damit? Du bist doch schon mächtig weit gekommen.»
«Auf dem Papier vielleicht. Aber ich habe mir geschworen, dass meine Weste weißer als weiß sein soll. Und es gibt jetzt schon Dinge, die ich verheimlichen muss. Und zwar gut verheimlichen muss.»
«Bereust du es?»
«Nein. Nicht die Sache mit dir und James. Ihr gebt mir das Gefühl, lebendig, gewollt und sicher zu sein. Ich glaube, ich bin dabei, mich in dich zu verlieben, Violet. Und in James auch.»
Ich wurde rot, als ich das aussprach, und der Gedanke an eine Ablehnung verursachte mir einen dicken Kloß im Hals. Doch Violet lächelte und klopfte mir auf den Schenkel. «Ich bin schon in dich verliebt, seit ich dich das erste Mal sah, Nora.»
Es kam uns gemeinsam. Wir hielten uns schweigend umschlungen und verloren einander in unseren tröstenden Armen. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Und da ich wusste, dass es Violet nichts ausmachte, ließ ich ihnen freien Lauf.
Als unsere Körper sich schließlich voneinander lösten, küsste sie erst meine Tränen weg und begann dann, schallend zu lachen. «So kannst du aber nicht rausgehen, Nora. Es sei denn, du
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