Noras Erziehung
erfahren hatten. Schon allein ihr zuzuhören löste eine große Kälte in mir aus. Niemals würde ich den Mut aufbringen können, meine Neigungen zuzugeben oder sie sogar zu verteidigen, wenn meine Eltern dahinterkämen. Da war ich mir ganz sicher. Die Affäre mit einem anderen Mädchen zuzugeben war schon schlimm genug. Aber der Gedanke an die Reaktionen von Mom und Dad, wenn sie erfuhren, dass ich mich gern übers Knie legen ließ, um mir den Hintern versohlen zu lassen, war einfach unerträglich.
Da ich diesen Gedanken gar nicht mehr richtig aus dem Kopf bekam, fiel es mir überaus schwer, mein Lernpensum einzuhalten, sodass ich schließlich aufgab und mich auf den Weg ins Studentenparlament machte. Im Gegensatz zu mir hatte Giles für seine Wiederwahl durchaus einen Herausforderer. Und zwar einen recht starken. Seine Auswahl kontroverser Debatten und Sprecher hatte eine Menge Interesse, aber auch Kritik hervorgerufen, und jeder schien eine eigene Meinung von ihm zu haben. Auch ich war hin- und hergerissen. Zum einen überzeugte mich sein Grundsatz, immer frei zu sprechen, zum anderen war ich von der Unterwürfigkeit gegenüber seinem Onkel ganz und gar nicht beeindruckt – auch wenn ich mich mit meinen aktuellenVorlieben fragte, ob mich diese Haltung nicht zu einer Heuchlerin machte.
So oder so, irgendwann hatte ich mich für eine Strategie entschieden: Ich würde ab und zu etwas Positives über Giles sagen, um mir die größtmögliche Unterstützung einer möglichst breiten Basis zu sichern. Sein Gegner stand etwas links von der Mitte, und das hieß, der Kampf würde härter werden als im Trimester zuvor. Doch seine absolute Sturheit in einem sehr eng gefassten Spektrum politischer Überzeugungen war auf Kosten seiner Beliebtheit gegangen, und ich war mir ziemlich sicher, dass Giles den Sieg davontragen würde. Noch ein weiteres Trimester von Sprechern mit extremen Ansichten und Debatten, die immer öfter Streikposten an den Eingängen provozierten, und ich würde selbst für Giles’ Posten kandidieren können. Vorausgesetzt, ich bestand die Zwischenprüfung. Sollte ich jedoch durchfallen, würde ich Oxford verlassen müssen. In diesem Fall konnte ich mich ebenso gut der Phantasie hingeben, die Violet gestern Abend für mich ausgemalt hatte, und mich im Bois de Boulogne für zehn Euro pro Blowjob anbieten.
Heute Abend sollte unsere Doppel-Verabredung stattfinden. Wir vier wollten uns an der Loge von St. Mary’s treffen und dann zu
Browns
gehen. Doch da nun Sir Randolph zu uns stoßen würde, war alles anders. Giles und ich gingen gemeinsam zum Parkplatz der Lehrkörper, wo Stephen, Lucy und Sir Randolph neben einem glänzenden schwarzen Bentley standen. Stephen schien nicht zu ahnen, dass zwischen uns irgendwas nicht in Ordnung war, und begrüßte mich mit einem Kuss. Mir blieb nicht viel übrig, als dasselbe von Sir Randolph über mich ergehen zu lassen, nur dass er mich auf die Wange küsste. Der alteKnabe strahlte förmlich, als er die ersten Worte an mich richtete.
«Giles sagte mir, dass Sie mein Jobangebot für den Sommer annehmen werden. Das ist ganz ausgezeichnet.»
«Vielen Dank. Sehr nett von Ihnen.»
«Aber ich bitte Sie. Sie werden eine Zierde für meine Abteilung sein. Das Trimester ist am zwanzigsten vorbei. Richtig, Giles? Da können Sie das Wochenende noch mit Ihren Eltern verbringen. Und wenn Sie danach nach London kommen, geht’s so richtig los.»
Dem lüsternen Glitzern in seinen Augen nach zu urteilen, konnte ich mir schon sehr gut vorstellen, was da losgehen sollte. Bestimmt würde ich mehr Tage des Sommers damit verbringen, meine Tugend zu verteidigen, als sie sausenzulassen. Dabei brauchte ich dringend ein bisschen Spaß.
«Ende Juli könnte schwierig werden, fürchte ich. Aber ansonsten bin ich frei.»
Sir Randolph mokierte sich einen kurzen Moment und schüttelte den Kopf. «Engagement ist in unseren Kreisen überaus wichtig, meine Liebe.»
Da mischte Giles sich ein. «Natürlich wird sie ihre Termine verschieben, Onkel. Wollen wir los?»
Wir verließen Oxford in Richtung Süden. Giles fuhr. Er kannte den Weg offensichtlich so gut, dass er schon bald von der Hauptstraße abfuhr, um diverse Abkürzungen über so kleine und versteckte Straßen zu nehmen, dass ich mich fast zu Hause wähnte. Als er endlich anhielt, standen wir hoch oben auf den Downs und blickten auf ein weites, flaches Tal. Am Horizont konnte man in der untergehenden Sonne die rot glitzernden Türme von
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