Noras Erziehung
Oxford erkennen – ein Panorama, das nur von zwei riesigen grauen Kühltürmen verschandelt wurde, die in mittlererEntfernung von uns standen. Giles streckte sich, als er aus dem Auto stieg.
«Das Tal von
White Horse
, falls ihr es nicht wusstet. Großartig, was? Wenn man mal von Didcot-Kraftwerk absieht.»
Ich fragte mich, ob er wohl nur angehalten hatte, um die Aussicht zu genießen, bevor wir ins Restaurant gingen. Aber er schloss das Auto ab und ging dann auf eine Art Bauernhaus zu. Keine anderen Gebäude waren in der Nähe zu sehen. Nur das offene Land der Downs davor und zwei Schornsteine, die über die Hecken und Wälder hinter uns ragten.
Stephen nahm meinen Arm. «Das hier ist ein wunderschöner Ort. Er heißt
The Barn
.»
«Die Scheune – das passt. Bist du schon mal hier gewesen?»
«Es gehört den Eltern eines Typen, mit dem wir zur Schule gegangen sind. Hat gerade erst eröffnet. Wir haben es letzten Sonntag schon ausprobiert. Du wirst begeistert sein.»
Erst als wir um die Ecke einer großen Scheune aus Feuer- und Backstein bogen, wurde mir klar, worum es sich hier eigentlich handelte. Das Ganze war ein völlig intakter, bewirtschafteter Bauernhof, nur dass alles blitzsauber war und man die Gebäude offensichtlich aufgehübscht hatte. Auf der einen Seite befand sich ein kleiner Laden, der Bio-Produkte verkaufte und unter dessen großer gelber Markise zwei kleine Tischchen standen. Die Scheune selbst war zu einem Restaurant –
The Barn
– umgebaut worden. Man sah schicke Glastüren und lange Tafeln mit weißen Leinentischdecken, die bereits mit edlem Geschirr und Gläsern eingedeckt waren. Außer uns war nur noch ein Paar mittlerenAlters mit einem älteren Freund oder Verwandten anwesend, die aufmerksam die Karte studierten.
Giles sah sich um und nickte dann zufrieden. «Perfekt, nicht wahr? Ausgesprochen diskret.»
Das Wort «diskret» ließ alle Alarmglocken in meinem Kopf läuten, aber ich entschied mich schnell, das als reine Albernheit abzutun. Schließlich konnte man sich nur schwer vorstellen, dass er bei den anderen anwesenden Gästen und dem Personal irgendwas geplant haben könnte. Und er würde Lucy und mich ja wohl kaum auffordern, die Herren unter dem Tisch mit dem Mund zu befriedigen.
Und er tat weder das noch sonst etwas unerwartet Unanständiges. Der einzige peinliche Moment kam, als Sir Randolph ein bisschen zu tief in die Flasche geschaut hatte und ziemlich sentimental wurde. So riet er uns vieren, so schnell wie möglich zu heiraten und Kinder zu zeugen. Giles war nur mäßig amüsiert, aber der geradezu vergötternde Blick in Lucys Augen verriet eindeutig, dass sie einen Antrag sofort und ohne zu überlegen angenommen hätte. Stephen hingegen reagierte überhaupt nicht.
Das Restaurant war gut. Es wurden nur Produkte vom eigenen Hof oder von Nachbarhöfen verarbeitet. Selbst der Wein stammte aus englischer Herstellung, was allerdings für einen Schwall an Beschwerden vonseiten Sir Randolphs sorgte. Abgesehen vom Koch, den wir gar nicht erst zu Gesicht bekamen, waren leider nur noch zwei weitere Bedienstete anwesend: Nigel, ein alter Schulfreund von Giles und Stephen, und ein Mädchen aus dem Dorf. Da sich das Restaurant immer weiter füllte, wurde der Service bei nur zwei Bediensteten immer langsamer, und es war bereits fast Mitternacht, als wir das Restaurant verließen. Giles hatte sich mit den Drinks sehr zurückgehalten, uns währenddes Essens aber immer so fleißig nachgeschenkt, dass ich mich ganz schön beschwipst fühlte, als wir in den Wagen stiegen.
Stephen saß neben mir und legte mir sofort nach dem Einsteigen seinen Arm um die Schultern. Ich ließ ihn gewähren. Noch war ich nicht bereit, meine verworrenen Gefühle zu ordnen, geschweige denn sie in Hörweite von Giles, oder noch schlimmer seines Onkels, zu diskutieren. Lucy hatte definitiv zu viel getrunken und schlief sehr schnell ein. Ihr Kopf stieß immer wieder leise gegen die Seitenscheibe, während Giles uns über die kurvigen Straßen von Berkshire fuhr. In Oxford angekommen, schlief sie immer noch, sodass Giles sie führen musste und es uns überließ, Sir Randolph in sein Gästezimmer zu bringen.
Irgendwann war ich schließlich mit Stephen allein. Er war ungewöhnlich still, nahm aber meine Hand, als wir St. Mary’s verließen. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits nach ein Uhr und die Straßen menschenleer. Ich war müde und hatte einen anstrengenden Tag vor mir. Das schien mir ein mehr als
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