Noras Erziehung
also nur zu klopfen.
Die Radfahrt dauerte nur ein paar Minuten, und nachdem ich sein Zimmer ausfindig gemacht hatte, kletterte ich über die niedrige Mauer und schlich über den dünnen Rasenstreifen, der das College-Gebäude von der Straße trennte. Seine Vorhänge waren nicht ganz zugezogen, und ich wagte aus reiner Neugierde einen Blick ins Innere. Natürlich nur, um vor dem Klopfen sicherzugehen, dass er noch nicht schlief. Das sagte ich mir zumindest.
Ich gelangte nur auf Zehenspitzen an das Fenster, konnte aber erkennen, dass er mit nach hinten gelegtem Kopf auf einem Lehnstuhl saß. Sein Gesichtsausdruck war so glückselig, wie er es eigentlich nur beim Sex sein konnte. Es war definitiv kein guter Moment, sich bemerkbar zu machen. Aber ich konnte dann doch nicht widerstehen, einen etwas genaueren Blick hineinzuwerfen. Wenn er wichste, wollte ich unbedingt seinen Schwanz sehen. Oder noch besser, wenn er es sich gerade besorgen ließ, die Person, die vor ihm kniete.
Ich schaute mich kurz um, um sicherzustellen, dass ich von niemandem beobachtet wurde. Dann stellte ich einen Fuß auf eine Mauerkante und zog mich vorsichtig balancierend am Fenster hoch. Jetzt konnte ich alles deutlich erkennen. Doch je klarer das Szenario wurde, desto weiter fiel mir vor Schock die Kinnlade runter. Giles saß ausgestreckt in einem Lehnstuhl, der schräg zum Fenster stand. Sein Gesicht war vor Ekstase ganz verzerrt, und ausseinem offenen Hosenschlitz ragte ein riesiger, erigierter Schwanz, den er der Person in den Mund rammte, dessen Kopf er in Position hielt. Bei dieser Person handelte es sich allerdings nicht um eine Frau, sondern um einen Mann. Meinen Mann, um genau zu sein. Stephen.
Während ich zusah, wie Stephens Kopf auf Giles Lancasters Erektion hoch- und runterfuhr, spürte ich, wie meine ganze, sorgfältig geplante Zukunft in sich zusammenfiel. Er war schwul. Und das machte alles, was wir zusammen hatten, zu einer Lüge. Jedes Wort der Leidenschaft aus seinem Munde und jede Zuneigungsbekundung waren auf einmal die reinste Farce.
Ich wollte nur noch weg. Ich sprang von dem kleinen Absatz runter, setzte über die niedrige Mauer und rannte ungeachtet der Passanten über die Hauptstraße. Auf dem gesamten Weg in die Zuflucht meines Zimmers bekam ich die Bilder nicht mehr aus dem Kopf: Stephen, den ich als Idealbild maskuliner Stärke und Tugend gesehen hatte, auf den Knien und mit dem Schwanz eines anderen Mannes im Mund. Mir fiel Ewans spöttisches Lachen ein, als er und seine Freunde mich damit aufgezogen hatten, dass die Jungs auf dem College sowieso alle schwul wären. Ich dachte daran, wie treu ich gewesen war und jeden interessierten Mann abgewiesen hatte – Giles eingeschlossen. Als mir dann schließlich wieder der merkwürdige Geschmack einfiel, den Stephen neulich im Mund gehabt hatte, begann ich zu fluchen und zu spucken. Es war der Geschmack eines Schwanzes gewesen!
Als ich im College ankam, war ich bereits in Tränen aufgelöst. Ich rannte hinauf in mein Zimmer, um niemandem zu begegnen, der mir irgendwelche Fragen hättestellen können. Ich konnte es einfach nicht ertragen, mich der Wahrheit zu stellen. Höchstens mit Violet hätte ich darüber sprechen können, aber die war ausgegangen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich aufs Bett zu werfen und mir bis tief in die Nacht die Augen aus dem Kopf zu heulen. Erst als das Licht der morgendlichen Winterdämmerung bereits durch mein Fenster fiel, schlief ich endlich ein.
Das Aufwachen war einfach schrecklich. Nach und nach erinnerte ich mich, wieso ich eigentlich vollständig bekleidet und mit schwerem Kopf auf dem Bett lag. Lediglich der Harndrang brachte mich schließlich dazu, aufzustehen und mich daranzumachen, irgendwie völlig apathisch, die verräterischen Ringe unter meinen Augen zu kaschieren. Es war bereits fast Mittag, und ich hätte längst im Studentenparlament sein müssen. Aber das war mir in diesem Moment völlig egal. Meine Lethargie wurde erst durchbrochen, als mir einfiel, dass ich heute mit einem wichtigen Typen von einem der Fernsehkanäle zu Mittag essen sollte.
Violet war immer noch nicht in ihrem Zimmer. Als mir klar wurde, dass sie die Nacht bestimmt mit James verbracht hatte, überfiel mich eine unerklärliche Eifersucht, die meine Traurigkeit noch vergrößerte. Das Mittagessen erlebte ich wie durch einen Nebel. Meine Antworten fielen ganz und gar automatisch aus, während der Typ mich zu dem Vertrag überredete, den
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