Noras Erziehung
tröstete mich einfach nur. Ich war so bedürftig, dass ich in ihren Armen förmlich dahinschmolz. Violet sagte kein Wort, sondern fing an, mir übers Haar und den Rücken zu streichen. Ihre Berührungen sorgten dafür, dass ich meinen Gefühlen völlig freien Lauf ließ. Ich klammerte mich an ihr fest, weinte mich an ihrer Schulter aus und küsste sie zweimal, bis mir klar wurde, wie unpassend das eigentlich war. Ich befreite mich aus ihrer Umarmung, grinste verlegen und fragte mich, wieso ich das getan hatte und was sie jetzt wohl von mir dachte. Doch in ihren Augen stand nur Mitgefühl, und sie erwiderte meine Küsse, bevor sie mich schließlich losließ.
«Möchtest du darüber reden?»
Ich nickte, immer noch tränenerstickt. Violet stand kurz auf, um die Tür zum großen Flur zu schließen, setzte sich dann auf mein Bett und klopfte einladend auf die Tagesdecke. Ich hatte ein paar Taschentücher gefunden und tupfte mir damit die Augen ab, während ich mich neben sie setzte. Nachdem sie mir ein Glas eingeschenkt hatte, legte sie mir den Arm um die Schultern und sah zu, wie ich einen Schluck des sehr willkommenen Weines trank.
«Also, was ist los?»
«Stephen.»
«Habt ihr Schluss gemacht?»
Ich schüttelte den Kopf und fragte mich noch kurz, wie ich ihr das Ganze jemals erklären sollte. Aber schon einen Moment später schoss es regelrecht aus mir heraus. «Er … er hat seit Ewigkeiten Sex mit Giles Lancaster. Schon bevor wir uns kennenlernten. Er bläst ihn, vielleicht sogar mehr. Ich hab sie dabei erwischt. In Giles’ Zimmer!»
Sie sagte nichts, nahm mich aber noch fester in den Arm, während ich weitererzählte.
«Ich dachte, er wäre mein Mann. Vielleicht sogar
der
Mann. Und jetzt ist er schwul! Alles war eine schreckliche Lüge! Von Anfang an! Ich weiß nicht, was ich tun soll, Violet. Giles hat mir mehr oder weniger gesagt, ich soll es einfach ignorieren. Aber wie soll ich das machen?»
«Hast du schon mit ihm gesprochen?»
«Nein, das konnte ich nicht. Aber ich bin auf Giles losgegangen, weil ich dachte, er hätte Stephen verführt, um sich an mir zu rächen. Dabei … dabei treiben sie es schon seit Jahren! Und die ganze Zeit, seit wir zusammen waren! Giles sagte, ich könnte Stephen auch dann eine gute Frau sein, wenn die beiden sich ab und zu besaufen und sich die Schwänze lutschen! Dreckskerle!»
«Stephen mag dich doch, oder? Im Bett, meine ich.»
«Ich glaube schon.»
«Vielleicht ist er ja gar nicht schwul. Vielleicht …»
«Er hat Giles einen geblasen.»
«Ganz ruhig, Süße. Ich erklär dir jetzt mal was. Die beiden waren zusammen auf der Privatschule, richtig? Viele Männer experimentieren in jungen Jahren mit ihrer Homosexualität. Besonders, wenn keine Mädchen da sind. Vielleicht ist es also nur eine Sache, die er aus seinem System kriegen muss. Und hundert Prozent schwul kann er ja wohl nicht sein. Nicht, wenn er dich mag. Wie ein Junge siehst du nämlich wirklich nicht aus!»
Sie drückte mich kurz, und ich musste trotz meines Zustands lächeln. Doch dieses Lächeln wurde sofort von einer weiteren Welle der Trauer überschwemmt.
«Aber er hat es hinter meinem Rücken getan! Er hätte doch mal was sagen können.»
«Jetzt komm, Nora. Was soll er denn zu seiner hinreißenden, neuen Freundin sagen? ‹Ach, übrigens, ich blase ab und zu gern die Schwänze von ein paar alten Freunden›?»
«Nein, das wohl nicht, aber … aber er hätte es einfach nicht tun sollen.»
Darauf wusste Violet keine Antwort, drückte mich dafür aber erneut und füllte mein Glas nach. Ich trank den Wein fast in einem Zug aus und holte tief Luft. Sie versuchte, nett zu sein, und ich verstand auch den Sinn, der hinter ihrer Erklärung steckte. Aber so richtig funktionieren wollte es nicht. Ich fühlte mich schrecklich, und immer noch war mir zum Heulen zumute. Wie sehr wünschte ich mir, die Sache wäre nie passiert. Wie sehr wünschte ich mir, dass ich mich an Stephen und Giles rächen könnte. Vor allem an Giles.
Violet hörte geduldig zu, während ich mehr oder weniger wahllos irgendetwas daherplapperte. Dabei behielt sie die ganze Zeit den Arm um mich gelegt und ließ mich nur kurz los, wenn sie mein Glas nachfüllte oder mir ein weiteres Taschentuch reichte. Ich wusste, ich war betrunken und verletzbar. Mein Körper war geschwächt und meine Gefühle völlig durcheinander. Gleichzeitig empfand ich ein unglaublich starkes Bedürfnis nach Trost, um das Geschehene irgendwie
Weitere Kostenlose Bücher