Noras Erziehung
ich in Wirklichkeit gar nicht empfand. Giles und sein Team gewannen um Haaresbreite, und der knappe Sieg machte meine Position als Stimmenzähler ungewöhnlich wichtig. Abgesehen davon, hatte ich nicht das Gefühl, etwas Besonderes geleistet zu haben. Und doch schien mich in den folgenden Tagen so ziemlich jeder zu beglückwünschen und mir zu raten, doch so bald wie möglich für eins der Ämter zu kandidieren, wobei sie mir ihre Unterstützung zusagten.
Eigentlich hatte ich nicht vor meinem zweiten Jahr oder zumindest nicht vor dem Trimester des ersten Jahres kandidieren wollen, aber die Chancen standen einfach zu gut. Zu diesem Zeitpunkt war im Studentenparlament jede Menge los. Giles kandidierte als Präsident gegen die linke Opposition, die sehr darauf erpicht war, ihn als elitär und abgehoben dastehen zu lassen. Das machte mich als eineseiner wenigen Vertrauten ohne hochwohlgeborenen Hintergrund zu einer Schlüsselfigur. Und zwar so sehr, dass mein Einfluss bereits in der sechsten Woche das Zünglein an der Waage zu sein schien.
Sah man von meinen persönlichen Gefühlen mal ab, dann war es ganz offensichtlich, dass ich ihn unterstützen musste. Jeder wusste um unsere Verbindung, und ich wurde zumindest teilweise als sein Protegé angesehen. Man hätte es mir eindeutig als Verrat ausgelegt, hätte ich seinem Gegner Rückendeckung gegeben. Außerdem war ich eindeutig der Überzeugung, dass eine linke Präsidentschaft wahrscheinlich die freie Auseinandersetzung in den Debatten behindern würde. Die Alternative wäre eine neutrale Haltung gewesen, aber das hätte mich die Unterstützung von Giles’ Lager gekostet, wenn ich irgendwann einmal selbst kandidieren würde.
Es war keine leichte Entscheidung. Ich gab ihm immer noch die Schuld an meiner alles andere als perfekten Beziehung zu Stephen und war sicher, dass er trotz seiner offenen Freundschaft und der netten Worte nichts weiter in mir sah als eine kleine Schlampe, die einfach nur nach oben wollte. Nichts wäre mir lieber gewesen, als ihn scheitern zu sehen – und zwar richtig. Aber wenn er wirklich verlor, dann würde er mich zweifellos mit in den Abgrund ziehen.
Also schluckte ich zum zweiten Mal binnen weniger Wochen meine tiefsten Gefühle und meinen Stolz hinunter und setzte all meine Kraft für seine Kampagne ein, während ich mich gleichzeitig um meine Wahl zur Protokollführerin kümmerte. Er dankte es mir mit seiner Hilfe. Aber da es sich bei meiner Gegnerin um ein unbedeutendes Mitglied des linken Flügels handelte, das nur von ihren engsten Mitstreitern unterstützt wurde, war ich mir schon ziemlich frühsicher, die Wahl zu gewinnen. Und auch bei Giles sah es aus, als könnte er sich die Mehrheit der Stimmen sichern.
Doch selbst zu diesem Zeitpunkt stellte ich meine Bemühungen nicht ein. Ich traf Leute in der ganzen Stadt und versuchte, mich bei so vielen Menschen wie möglich beliebt zu machen. Ich trank absurde Mengen Kaffee und viel zu viel Alkohol, während ich meine eigentliche Arbeit so weit einschränkte, dass Dr. Etheridge gerade noch zufrieden mit mir sein konnte. Selbst nachts kam ich nicht zur Ruhe, denn seit unserer Nummer in der Walton Street wollte Stephen mehr und mehr Zeit mit mir verbringen und seine Sexualität ausleben.
Dabei verriet ich mich nicht ein einziges Mal. Wieder und wieder ging ich auf die Knie, um ihn auf die eine oder andere Art in mich eindringen zu lassen, während er über einer von Dutzenden ausgefeilter bisexueller Phantasien einen Steifen kriegte. Mein eigener Kopf war dabei immer angefüllt mit Bildern, wie er mich benutzte und wie ich bestraft wurde. Und natürlich mit Bildern von Violet – die im realen Leben zudem überaus verständnisvoll war. Immer wieder ermahnte sie mich, mein Tempo zu drosseln und vernünftig zu essen. Und die tröstenden Umarmungen, mit denen sie mich erdete, endeten oftmals mit ihrem Kopf zwischen meinen Schenkeln.
Irgendwann kam der Tag der Studentenparlamentswahlen, und all meine harte Arbeit trug endlich Früchte. Giles wurde mit einer Mehrheit von dreihundert Stimmen gewählt. Sein Gegner war außer sich vor Wut. Er schien sich seiner moralischen Überlegenheit so sicher gewesen zu sein, dass er kaum glauben konnte, wie ein vernünftiger Mensch ihn nicht hatte wählen können. Wir hatten das Mittelfeld erobert – oder besser gesagt, ich hatte das Zentrumerobert –, von dem die meisten Giles für das kleinere Übel hielten. Mein eigener Vorsprung vor meiner
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