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Noras Erziehung

Noras Erziehung

Titel: Noras Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica Belle
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Gegnerin betrug sechshundert Stimmen.
    Giles war vielleicht zum Präsidenten gewählt worden, aber er wusste, dass dies meine Wahl war. Er war sehr darauf bedacht, mich dicht an seiner Seite zu halten, und half mir, mich in den letzten Tagen des Trimesters in meine neue Rolle einzufinden. Ich nahm das alles siegestrunken und voller Selbstbewusstsein hin. Die Leute handelten mich schon als potenzielle Kandidatin für die nächste Präsidentenwahl, und selbst Giles schien so etwas wie Ehrfurcht vor mir zu haben. Die Sprüche über meine Herkunft sparte er sich, und vor seinen Kumpanen betonte er immer wieder, dass meine Familie mit mir bereits in der vierten Generation in Oxford studierte. Seine Lobeshymnen sorgten schließlich dafür, dass ich in seinen elitären Zirkel aufgenommen wurde. Doch als ich am letzten Nachmittag des Trimesters nach dem Essen rüber zum Emmanuel College ging, um mich auf – wie ich hoffte – leidenschaftliche Weise von Stephen zu verabschieden, fand ich ihn nicht. Ich wartete und ließ den Blick über das Gelände schweifen, bis mein Blick an der riesigen Magnolie vor seinem Gebäudeflügel hängenblieb, die bereits in voller Blüte stand. Um in sein Zimmer zu gelangen, musste er an diesem Baum vorbei. Aber ich wusste, dass er die nächsten Stunden ganz sicher nicht kommen würde. Zumindest nicht mit mir.
     
    Meine zweite Heimkehr unterschied sich sehr von meinem letzten Aufenthalt zu Hause. Dad war begeistert von meinen Leistungen und schien zum ersten Mal in meinem Leben von mir beeindruckt zu sein und nicht nur vorauszusetzen, dass ich Erfolg haben würde. Mum war da schonkritischer und machte sich Sorgen, dass ich durch mein Engagement im Studentenparlament zu viel vom Studium verpassen würde. Aber glücklicherweise hatte ich bei den letzten Prüfungen recht gut abgeschnitten.
    Nach der Langeweile, die mich während meiner Weihnachtsferien überfallen hatte, sorgte ich diesmal für ausreichend Einladungen von meinen Freunden. Und während Stephen in den USA Rudern lehrte, gelang es mir überaus gut, mich zu beschäftigen. Dazu gehörte auch, dass ich mit Violet und Dr.   James McLean zur Halbinsel Contentin in der Normandie flog. Ich hatte die Einladung unmöglich ablehnen können, war aber mehr als nur ein bisschen nervös, als ich mich am Flughafen von Exeter von meinen Eltern verabschiedete und eincheckte.
    Ich hatte die Adresse des Gîte rural, das James gebucht hatte, bereits im Internet recherchiert. Das Haus war ein bisschen größer als ein Chalet und lag in der Nähe einer Klippe, von der ein steiler Pfad zu ein paar kleinen Stränden mit zerklüfteten Felsen führte. Das Ganze sah wirklich wunderschön aus und war, wenn man dem Satellitenbild trauen konnte, sehr einsam gelegen. Hier und da standen noch ein paar einzelne Häuser, der eine oder andere Bauernhof und in einigen Kilometern Entfernung ein kleines Dorf.
    Fürs Frühjahr war es schon recht warm, und so traf mich ein ziemlicher Schock, als ich in Cherbourg von dem klimatisierten Inneren des Flugzeugs auf die Straße trat. Die Luft fühlte sich schwül und stickig an, und das Meer wurde mit jedem Meter, den mein Taxi sich dem Ende der Halbinsel näherte, verlockender. Auf Violet schien das Wasser dieselbe Wirkung zu haben, denn als ich im Haus eintraf, war dort niemand anzutreffen. Dafür lag ein kleiner Zettelauf dem Küchentisch, auf den sie mit ihrer ausladenden Schrift ein einziges Wort geschrieben hatte: Strand.
    Ich zog mir einen Bikini an und marschierte in meinen Espadrilles über einen steilen, von Dornbüschen bestandenen Pfad aus weicher Erde, bis ich eine winzige Bucht erreichte, die von zwei Felsnasen aus zerklüftetem grauem Stein eingerahmt war. Der Strand sah wunderschön aus. Eine sichelförmige Spur hellen Sandes führte hinunter zum blaugrünen Wasser, das sich in der stillen Luft kaum bewegte. Der Strand war leer – so schien es zumindest, bis Violet plötzlich hinter einem Felsen hervorkam. Sie war splitternackt. Ihr blasser, schlanker Körper war vollständig der Sonne ausgesetzt und die dunklen Locken mit der üblichen Schleife zusammengebunden.
    Einen Moment lang stand ich einfach nur da und sah sie an. Dabei musste ich daran denken, was wir zusammen schon so getrieben hatten und in der Zukunft noch treiben würden – besonders, wenn wir nicht von neugierigen Blicken gestört wurden. Ich hatte mich nie als Lesbe gesehen – und tat es auch jetzt nicht   –, aber es ließ sich nicht

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