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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Bertram
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eine Weile, aber mir fallen einfach keine wilden Tiere ein, die hier leben und größenmäßig irgendwo dazwischen liegen.
    Dann fällt mir doch was ein!
    Ich habe in die falsche Richtung gedacht.
    Der Käfig ist gar nicht für wilde Tiere.
    Ich spüre, wie ich am ganzen Leib zu zittern beginne. Nur mit Mühe kann ich mich gegen den Impuls wehren, wegzulaufen und Mel mit dem verrückten Kinderfänger allein zurückzulassen.
    Warum eigentlich nicht?
    Weil sich das nicht gehört. Das ist Verrat.
    Andererseits hat sie eine Pistole und ich nicht.
    Die ist aus Seife, die nützt ihr gar nichts.
    Mel kann auch ohne die auf sich aufpassen.
    Denkt sie. Stimmt aber nicht.
    Immerhin hat sie mich beklaut.
    Aber sie wusste ja nicht, dass es mein Geld ist.
    Meine edlen und meine niederträchtigen Gedanken spielen eine Weile Pingpong. Dann landet das Gute in meinem Kopf einen Schmetterball und beendet die Diskussion: Wenn ich Mel alleinlasse, wird Erich sie in den Käfig sperren, mit gebratenem Fisch mästen und dann …
    Ich weiß nicht, was er mit ihr machen wird. Klar ist nur, dass es absolut scheußlich sein wird, und das kann ich nicht zulassen.
    Mit zittrigen Beinen gehe ich zurück in die Hütte und setze mich neben Mel an den Tisch. Die drei Fische brutzeln schon in einer gusseisernen Pfanne über dem Feuer. Erich dreht uns den Rücken zu und wacht mit einem Holzlöffel in der Hand darüber, dass sie nicht anbrennen. Auf einem Regal neben ihm dudelt ein Schlager aus einem Transistorradio, das mit Batterien läuft. Strom gibt es hier ja keinen. Erich singt so laut mit, dass ich es wagen kann, Mel zu warnen.
    „Wir müssen weg! Schnell! Der Kerl ist gefährlich!“, flüstere ich.
    „Ich gehe erst, wenn ich was gegessen habe. Ich habe Hunger“, erwidert Mel unbeeindruckt. Sie gibt sich keine große Mühe, leise zu sprechen.
    „In dem Schuppen steht ein Käfig. Und darin liegt eine blutige Kindersandale! Der Kerl ist ein Psycho! Das ist ein gemeingefährlicher Kinderfänger!“ Ich übertreibe etwas, damit Mel endlich den Ernst unserer lebensbedrohlichen Lage erkennt.
    Mel schaut mich an, als wäre ich der Verrückte hier und nicht Erich, der gerade laut den Schlussakkord des Liedes aus dem Radio mitschmettert.
    „Im Fall der vermissten Melanie Kosslowski gibt es keine Neuigkeiten“, verkündet jetzt ein Sprecher mit ernster Stimme. „Betreuer der Ferienfreizeit, mit der sie nach Kroatien reisen sollte, hatten das elfjährige Mädchen kurz nach Verlassen einer Autobahnraststätte im Norden von Berlin als vermisst gemeldet. Eine großräumige Suchaktion blieb bislang ohne Erfolg. Melanie trug zum Zeitpunkt ihres Verschwindens Jeans, ein weißes T-Shirt und eine rote Jacke. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen …“
    Mel und ich sehen uns an. Dann fängt sie plötzlich an zu japsen, weil sie wieder einen Asthma-Anfall kriegt. Wahrscheinlich vor Schreck oder wegen des Gestanks von dem toten Dachs, der hier irgendwo herumliegen muss.
    „Was ist denn mit der Kleinen los?“, fragt Erich und dreht sich erschrocken um.
    Mel greift sich an den Hals und röchelt: „Mein Spray! Schnell!“
    „Wo ist das denn?“, rufe ich aufgeregt.
    Erich kommt zu ihr herüber und beugt sich besorgt über sie.
    „In meiner Jacke, die ist …“
    „… in der Villa!!!“, vollende ich ihren Satz.
    „Jetzt sag schon, was hat Sonja denn?“
    Zuerst kapiere ich gar nicht, wen Erich meint. Dann schalte ich endlich und brülle: „Sie kriegt keine Luft mehr! Die erstickt uns! Los, rufen Sie einen Arzt! Machen Sie schon!“
    Mel röchelt noch lauter. Ihr Gesicht ist ganz verzerrt. Es sieht sogar schlimmer aus als beim letzten Mal. Ausgerechnet jetzt läuft im Radio so ein lustiger Schlager, in dem sich Sonnenschein auf Glücklichsein reimt.
    „Ich hab doch gesagt, hier ist ein verdammtes Funkloch!“, erwidert Erich verzweifelt, als wenn er etwas dafür könnte. Sein Blick wandert zwischen mir und Mel hin und her, dann hat er sich entschieden. „Wartet auf mich! Ich nehm das Moped und hol einen Doktor! Spätestens in einer halben Stunde bin ich wieder da! Halt durch, Kleines! Halt durch!“
    Erich dreht sich um, stürmt aus der Hütte und ruft: „Tito! Du bleibst hier! Ich verlass mich auf dich!“
    Kurz darauf höre ich das Moped auf dem Waldweg davonbrausen. Mel hört das auch, und mit einem Schlag beruhigt sich ihre Atmung wieder.
    „Das war knapp“, sagt sie und bläst die Backen auf. Dann lässt sie die Luft erleichtert

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