Norden ist, wo oben ist
entweichen.
„Du hast das nur gespielt!“ Ich bin echt sauer, auch wenn sie uns mit ihrem Theater wahrscheinlich das Leben gerettet hat.
„Du wolltest doch hier raus! Und außerdem hätte er mich bestimmt erkannt, auch ohne meine rote Jacke. Dann wäre unsere Reise zu Ende gewesen.“
„Verdammt, ich habe mir Sorgen um dich gemacht! Mordsmäßige Sorgen! Mit so was macht man doch keine Späße!“
Mel zuckt nur die Achseln. „Komm, ich will die blutige Sandale sehen!“
„Na ja, das war ein bisschen übertrieben“, gebe ich zu.
„Wieso? Ist da etwa gar kein Blut drauf?“
„Blut schon, aber keine Sandale. Im Schuppen steht ein großer Käfig und überall sind Blutflecken auf dem Boden.“
Mel rollt mit den Augen und verlässt die Hütte, ohne ein Wort zu sagen.
Mel kniet vor dem Käfig und untersucht die roten Flecken. Die Tür war offen, weil Erich das Moped rausgeholt und vor lauter Aufregung vergessen hat, hinter sich abzuschließen.
„Mit so was macht man keine Späße! Verdammt, ich habe mir Sorgen gemacht! Mordsmäßige Sorgen!“, sagt Mel und sieht mich an. Zuerst ganz ernst, dann lacht sie und zeigt auf eine rote Lackbüchse, die in einer Ecke des Schuppens steht. „Das sind übrigens Farbkleckse, kein Blut. Elvis-Schisser!“
„Und du? Hattest du etwa keine Angst? Klar hattest du Angst, sonst hättest du dich nicht Sonja genannt!“
„Das war eine reine Vorsichtsmaßnahme!“, antwortet Mel.
„Von wegen!“, sage ich. „Und den Käfig habe ich mir wohl auch nur ausgedacht!“
„Der ist nicht für Kinder, der war für Tito.“
„Den gibt es gar nicht!“, erwidere ich trotzig.
„Nicht mehr. Erich hat mir von ihm erzählt, als du draußen warst. Der Arme ist vor einem Monat gestorben, und weil Erich seinen Hund so vermisst, tut er einfach so, als wenn Tito noch am Leben wäre.“
„Das wusste ich nicht!“, murmele ich betreten.
„Aber ich habe noch etwas anderes entdeckt.“ Mel erhebt sich. „In dem Fass da ist Diesel! Damit können wir unseren Kahn wieder flottmachen.“
„Und wie sollen wir das Benzin zum Boot kriegen?“
„Bin gleich wieder da!“, sagt Mel und verschwindet.
Ein paar Minuten später ist sie mit dem Fischeimer zurück. Auf dem Fass liegt ein Brett, das verhindern soll, dass Dreck reinfällt oder Mäuse in der schillernden Flüssigkeit ertrinken. Mel räumt das Brett weg, taucht den Plastikeimer in das Fass und zieht ihn drei viertel voll wieder heraus.
„So, das müsste für ein paar Kilometer reichen“, sagt sie und drückt mir den schweren Eimer in die Hand. Als ich ihn hochhebe, spüre ich schmerzhaft die Blasen an meinen Händen. Aber ich lasse mir nichts anmerken, weil ich immer noch ein schlechtes Gewissen wegen meiner haltlosen Verdächtigungen habe.
Auf dem Weg zurück zum Schiff versuche ich, den Eimer möglichst ruhig zu halten, damit ich nichts verschütte. Die Natur um uns herum sieht ziemlich unberührt aus und ich will hier nicht für die erste Ölkatastrophe verantwortlich sein.
Auf halbem Weg dreht Mel um.
„Ich hab was vergessen. Geh du ruhig schon vor!“, sagt sie und rennt zurück Richtung Hütte.
Je länger ich laufe, desto mehr schmerzen meine Hände, und je mehr meine Blasen wehtun, desto mehr schwindet mein schlechtes Gewissen. Es ist ja noch gar nicht bewiesen, dass Erich kein gemeingefährlicher Kinderfänger ist. Für den Käfig und die roten Flecken mag es vielleicht eine vernünftige Erklärung geben, aber warum war er so freundlich zu uns? Das ist doch verdächtig.
Mel holt mich erst wieder ein, als ich bereits beim Schiff angelangt bin. Sie hat eine Tüte in der Hand. Aber das erkenne ich erst auf den zweiten Blick, weil ich meine Augen nicht von ihrem Hals abwenden kann. Sie trägt ein Fuchsfell um die Schultern und das sieht ziemlich schräg aus.
„So eines habe ich mir immer schon gewünscht! Todschick, nicht?“, fragt Mel, als sie meinen Blick bemerkt.
„Hast du das geklaut?“
„Ich bin doch keine Diebin!“, behauptet sie entrüstet. „Ich hab dafür bezahlt! Und für den Diesel und das hier auch!“
Sie hält die Tüte in die Höhe, aus der es nach frisch gebratenen Fischen duftet.
„Wie viel?“
„Zwei Fische. Für jeden von uns einen.“
„Wie viel hast du bezahlt?“
„Hundert Euro für alles. Ich hab es ihm auf den Tisch gelegt“, antwortet Mel und zieht mit ihrer freien Hand unseren letzten Fünfzigeuroschein aus der Tasche. „Ich bin gerne großzügig.“
Mel hat leicht
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