Norden ist, wo oben ist
alles ist entspannt, alles ist easy. Wenn ich mein Smartphone noch hätte, würde ich jetzt ein Foto machen, damit ich mich später immer daran erinnern kann.
Aus lauter Übermut fange ich an zu bellen.
„Wau! Wauwau! Wau!“, kläffe ich.
„Platz, Tito!“, ruft Mel und lacht.
Ich fange an zu heulen wie ein Köter, der seine Dose mit Hundefutter nicht alleine aufkriegt.
„Sei ein braves Hündchen, Tito!“, sagt Mel und da muss ich lachen.
Vielleicht sind wir so aufgekratzt, weil wir gerade mit knapper Not einem Kinderfänger entkommen sind. Nach einer Nahtod-Erfahrung ist man randvoll mit Glückshormonen, habe ich mal gelesen in einem Artikel über einen Bergsteiger, der in eine Gletscherspalte gestürzt ist. Als die Bergrettung ihn da rausgeholt hat, konnte er gar nicht mehr aufhören zu lachen.
So ähnlich geht es Mel und mir jetzt auch. Wir kichern, prusten und giggeln, dass die Vögel in den Bäumen erschreckt aufflattern.
Eigentlich sind wir wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn, fällt mir ein, nur dass wir eben nicht auf einem Floß auf dem Mississippi, sondern in einem Boot auf einem Kanal zwischen Berlin und der Ostsee unterwegs sind. Ich bin Tom, der clevere Junge aus gutem Elternhaus, und Mel ist Huck, das Kind, das wild und frei auf der Straße lebt. Ich finde, die Beschreibung passt ganz gut auf uns beide.
Das Buch hat mir mein Vater vor dem Schlafengehen vorgelesen, als ich noch kleiner war. Als er selbst noch kleiner war, war es sein Lieblingsbuch. Also bevor er mit dem Geschäftemachen angefangen hat.
„Findest du nicht auch, dass wir genau wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn sind?“, rufe ich Mel zu.
„So ein Quatsch“, erwidert Mel.
„Warum?“, frage ich erstaunt.
„Weil die beiden gar nicht zusammen auf dem Floß waren. Huck war mit diesem entlaufenen Sklaven Jim allein unterwegs, während Tom brav bei Tante Betty zu Hause saß.“
„Hast du das Buch gelesen?“
„Nein, aber der Film lief bei uns im Jugendzentrum.“
Ich befürchte, Mel hat Recht. Das heißt, ich muss unsere Rollenverteilung überdenken. Mel bleibt Huck, das ist klar, aber ich wäre dann Jim, der entlaufene Sklave, und ob mir das gefällt, weiß ich nicht so genau.
„Meinst du, das ist der richtige Weg?“, unterbricht Mel irgendwann meine Überlegungen.
„Wo zeigt denn der Kompass hin?“, frage ich zurück.
„Nach oben!“
„Also nach Norden!“
„Glaub schon!“
„Dann sind wir richtig. Die Ostsee liegt im Norden.“
„Und warum heißt sie dann nicht Nordsee?“
„Weil es die schon gibt.“
„Liegt die auch im Norden?“
„Nein. Im Westen.“
„Und wieso nennt man die nicht Westsee? Das würde viel besser passen und dann könnte man die Ostsee Nordsee nennen, so wie es richtig wäre.“
Weil ich darauf auch keine Antwort weiß, wechsele ich das Thema.
„Wie lang ist es her, dass du deinen Bruder das letzte Mal gesehen hast?“, frage ich Mel. Sie schaut angestrengt nach vorne aufs Wasser. Dabei ist da nichts, kein Baumstamm, kein Biber, kein Ruderer. Gar nichts, was sie versehentlich überfahren könnte.
„Hast du nicht gehört? Ich wollte wissen, wann ihr beide euch das letzte Mal getroffen habt“, wiederhole ich.
Mel starrt weiter auf den Kanal, als ob über dem Wasser dichter Nebel hängen würde und uns jeden Augenblick ein dicker Ozeandampfer rammen könnte.
Dann murmelt sie etwas, was ich nicht verstehen kann.
„Wie bitte?“
„Noch nie“, wiederholt sie, ohne sich zu mir umzudrehen.
„Was?“ Ich bin so überrascht, dass ich aufspringe. „Du hast ihn noch nie getroffen?“
„Hab ich doch gerade gesagt.“
„Aber … aber …“
„Aber was?“
„Aber woher … ich mein … wieso … und überhaupt.“
„Mein Bruder ist fünfzehn Jahre älter als ich, und als meine Mutter gestorben ist, sind wir in unterschiedliche Pflegefamilien gekommen. Aber er ist immer von zu Hause abgehauen. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, wie er aussah. Und ein Foto habe ich auch nicht“, erzählt Mel.
Ich bin sprachlos. Solche Geschichten kenne ich sonst nur aus so Problemkinderbüchern. Zum Glück erwartet Mel gar nicht, dass ich etwas sage.
„Die wollten, dass ich ganz in der neuen Familie aufgehe. Deswegen hat die Tante vom Jugendamt jeden Kontakt zu ihm verhindert. Ich glaube, sie hatte Angst, dass er einen schlechten Einfluss auf mich hat.“
„Und woher weißt du, dass er an der Ostsee wohnt?“ Ich bin heilfroh, dass mir endlich eine vernünftige Frage
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