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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Bertram
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einfällt.
    „Ich habe jedes halbe Jahr ein Treffen bei der Tante vom Jugendamt. Dann muss ich erzählen, wie ich mich fühle und wie es in der Schule läuft und so einen Kram. Der letzte Termin war vor zwei Wochen. Als ich ihr da gegenübersaß, musste sie plötzlich aufs Klo. Ich war ganz allein in dem Büro und da hab ich in meine Akte geguckt. War ganz einfach: Seine Adresse stand schon auf der zweiten Seite. Ich habe sie mir mit einem Kuli aufs Bein geschrieben. Da sieht man es nicht sofort.“
    Mel krempelt das rechte Hosenbein hoch und zeigt mir die Notiz auf ihrer Wade: Melchiorstraße 15.
    „Seitdem habe ich mir mein rechtes Bein nicht mehr gewaschen.“
    „Deswegen bist du nicht ins Wasser gesprungen!“ Plötzlich ist mir alles klar.
    „Yep“, antwortet Mel.
    „Und deswegen hast du dich auf dem Klo versteckt. Auf der Autobahnraststätte, bis dein Bus weg war.“
    „Yep!“
    „Und dann hast du dir einen Deppen gesucht, der dir hilft.“
    „Yep!“ Jetzt erst dreht sich Mel zu mir um. „Du musst mir helfen, ihn zu finden, Elvis! Wir wollen uns ab jetzt immer die Wahrheit sagen, okay?!“ Dabei lächelt sie mich so nett an, dass ich ihr gar nicht böse sein kann.
    Ich nicke nur. Was soll ich auch sonst tun?
    „Fein! Dann nehmen wir weiter Kurs nach oben!“
    Mel schaltet einen Gang hoch und ich betrachte schweigend die Wellen, die vom Boot aufgeworfen werden, sich gleichmäßig über das Wasser ausbreiten und erst am Ufer brechen.
    Warum soll ich Mel die ganze Wahrheit sagen? Wem soll das nützen? Ihr? Mir?
    Hier draußen auf dem Wasser spielt es keine Rolle, wer von uns beiden Geld hat oder nicht. Das spielt überhaupt keine Rolle mehr, solange wir genug Sprit haben, um weiterzufahren.
    Die Landschaft rechts und links des Kanals verändert sich. Der Wald weicht zwischendurch kleinen Wiesen und Weiden. In der Ferne sind auch Häuser zu erkennen. Keine Hütten von Kinderfängern, sondern richtige Häuser mit Zäunen, Garagen und Schaukeln im Garten. Es werden immer mehr, und wenn mich nicht alles täuscht, nähern wir uns einer Ortschaft. Der Kanal macht eine sanfte Kurve und dahinter taucht tatsächlich ein kleines Dorf auf. Es muss ein Ferienort sein, denn die Häuser und Gärten sehen alle ganz schnuckelig aus und an einem Anleger gibt es sogar einen Tretbootverleih.
    Mel steuert direkt auf den Anleger zu.
    „Was hast du vor?“, frage ich.
    „Einkaufen gehen! Was sonst?!“, antwortet Mel. „Wir müssen unsere Vorräte auffüllen.“
    Da hat sie nicht ganz Unrecht. Ich habe auch schon wieder Hunger, weil die Fische nicht besonders groß waren.
    „Lass mich anlegen. Du kannst die Leine nehmen und das Schiff festmachen“, sage ich und reiche ihr eines der Bootsseile. Ich habe Angst, dass sie beim Anlegen einen Kratzer in den Lack macht. Das würde meinem Vater gar nicht gefallen. Schließlich will er das Boot noch weiterverkaufen, wenn das neue da ist.
    Zu meiner Überraschung räumt Mel freiwillig ihren Platz am Steuer und nimmt mir die Leine aus der Hand.
    In einem weiten Bogen steuere ich das Schiff an den Anleger, wo die Tretboote festgemacht sind. Die Verleiherin der Tretboote sitzt in einem Liegestuhl. Neben ihr steht ein Hocker, auf dem eine Geldkassette und ein Notizblock ruhen. Sie trägt eine geblümte Kittelschürze und ist für ihre Größe mindestens fünfzig Kilo zu schwer. Es ist ein Wunder, dass der Liegestuhl nicht unter ihr zusammenbricht. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass der Stuhl mit Verstrebungen extra für sie verstärkt worden ist. Sie schaut nur kurz von ihrem Handy auf. Als echter Profi hat sie sofort erkannt, dass wir keine Kundschaft für sie sind, weil wir ein eigenes Schiff haben. Was sollen wir da mit einem von ihren Tretbooten?
    Gelangweilt widmet sie sich wieder ihren SMS -Nachrichten oder dem Wetterbericht oder irgendeinem Mobile-Game, was weiß ich.
    Mel springt mit der Leine in der Hand auf den Anleger und macht unser Schiff fest. Ich schalte den Motor aus, ziehe den Schlüssel ab und folge ihr, nachdem ich mir sicherheitshalber mein Florett und die Maske aus der Kajüte geholt habe.
    Man kann ja nie wissen.
    Außer der Bootsverleiherin ist an Land niemand zu sehen. Scheint nicht viel los zu sein in dem Kaff.
    Trotzdem ruft Mel laut: „Bis nachher, Papa!“ in Richtung Schiff, damit die Frau in dem Liegestuhl sich nicht wundert, was zwei Kinder ganz allein in dieser gottverlassenen Gegend wollen.
    „Einen schönen guten Tag“, grüßt Mel

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