Nordermoor
Grabinschrift, die sie für ihre Tochter gewählt hat, handelt von Feinden«, sagte Erlendur.
»Bewahre mein Leben vor dem Schrecken der Feinde. Sie hat auch eine Grabschrift für sich selbst ausgewählt, aber die kam nicht auf ihren Grabstein«, sagte Elín, stand auf und ging zu einem schönen Glasschrank, zog eine Schublade auf und nahm eine schwarze Schachtel heraus. Sie öffnete sie mit einem Schlüssel, entnahm ihr einige Umschläge und ein kleines Blatt.
»Das habe ich am Abend, als sie starb, auf dem Küchentisch gefunden, aber ich war mir nicht sicher, ob sie wollte, dass ich das auf den Grabstein meißeln lasse. Ich zweifle daran. Ich glaube, dass ich gar keine Vorstellung davon hatte, wie sehr sie gequält war, bevor ich das hier sah.«
Sie reichte Erlendur das Blatt, und er las die ersten Worte aus dem Psalm, den er zuvor in der Bibel nachgeschlagen hatte: Höre, Gott, meine Stimme in meiner Klage.
Kapitel 12
A ls Erlendur abends nach Hause kam, hockte seine Tochter Eva Lind oben vor der Wohnungstür und schien zu schlafen. Er redete sie an und versuchte, sie zu wecken. Als sie keinerlei Reaktion zeigte, packte er sie unter den Armen und schleppte sie in die Wohnung hinein. Er wusste nicht, ob sie nur schlief oder mit irgendetwas zugedröhnt war. Er legte sie auf das Sofa im Wohnzimmer. Sie atmete regelmäßig, und der Puls schien in Ordnung zu sein. Er blickte sie eine gute Weile an und überlegte, was zu tun sei. Am liebsten hätte er sie in die Badewanne gesteckt. Ein übler Geruch strömte von ihr aus, ihre Hände waren verdreckt, und die Haare waren schmutzig und verklebt.
»Wo hast du dich wieder herumgetrieben?«, knurrte Erlendur.
Er setzte sich in einen Sessel neben sie, immer noch im Mantel und mit dem Hut auf dem Kopf, und dachte über seine Tochter nach, bis er tief und fest einschlief.
Er wollte nicht aufwachen, als Eva Lind ihn am nächsten Morgen wachrüttelte, und er versuchte, sich an die Fetzen eines Traums zu klammern, der ihm dieselbe Angst eingeflößt hatte wie der Traum in der Nacht zuvor. Er wusste, dass es der gleiche Traum war, konnte ihn aber genau wie gestern nicht ins Gedächtnis zurückrufen, konnte ihm nicht beikommen. Was blieb, war dieses unangenehme Gefühl und Unwohlsein, das ihn bis ins Wachen verfolgte.
Es war noch vor acht, und draußen war es immer noch stockfinster. Erlendur hatte den Eindruck, als würde es immer noch in Strömen gießen. Zu seiner Verwunderung stieg ihm aus der Küche Kaffeeduft in die Nase, und aus dem Badezimmer roch es, als habe jemand gebadet. Er bemerkte, dass Eva Lind sich eines seiner Hemden angezogen hatte und alte Jeans, die sie mit einem Gürtel in der Taille zusammengerafft hatte. Sie war barfuß und sauber.
»Du warst ja gut drauf gestern Abend«, sagte er, bereute es aber augenblicklich. Dachte dann bei sich, dass er es schon längst aufgegeben haben sollte, ihr so viel Beachtung zu schenken.
»Ich hab mir die Sache überlegt«, sagte Eva Lind und ging in die Küche. »Ich werde dich zum Großvater machen. Opa Erlendur. Das bist du.«
»Und bist du dann gestern Abend das letzte Mal ausgeflippt, oder was?«
»Ist es in Ordnung, wenn ich hier eine Zeit lang wohne, bloß solange, bis ich was Neues gefunden habe?«
»Meinetwegen.«
Er setzte sich zu ihr an den Küchentisch und trank einen Schluck von dem Kaffee, den sie für ihn eingegossen hatte.
»Und wie bist du zu dieser Entscheidung gekommen?«
»Einfach so.«
»Einfach so?«
»Kann ich bei dir bleiben?«
»So lange du willst. Das weißt du.«
»Hörst du dann auf, mir Fragen zu stellen? Hörst du auf mit diesen Verhören? Es ist, als ob du ständig auf der Arbeit bist.«
»Ich bin ständig auf der Arbeit.«
»Hast du das Mädchen aus Garðabær schon gefunden?«
»Nein. Das hat keine Priorität. Hab gestern mit ihrem Mann gesprochen. Der weiß nichts. Das Mädchen hat eine Nachricht hinterlassen und geschrieben, dass irgendjemand grauenvoll sei, und dann gefragt, was habe ich getan?«
»Vielleicht hat jemand auf der Party versucht, sie aufzureißen.«
»Aufreißen«, sagte Erlendur. »Soll das ein Wort sein?«
»Was kann man einer Braut auf der Hochzeit antun, das sie dazu bringt, abzuhauen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur desinteressiert. »Es könnte höchstens sein, dass der Bräutigam die Brautjungfern betatschelt hat, und sie hat es beobachtet. Ich finde es gut, dass du das Kind haben willst. Vielleicht hilft dir das aus diesem Teufelskreis
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