Nordermoor
oder wie ein unglückliches Zusammentreffen aussehen zu lassen. Mir war nicht klar … eigentlich sollte ich dir das nicht erzählen. Ich kam nicht weiter mit der Ermittlung. Sie behauptete dieses, er behauptete jenes. Ich lud sie beide zur gleichen Zeit vor und sorgte dafür, dass sie sich treffen mussten.«
»Was passierte?«
»Sie wurde hysterisch, und wir mussten einen Arzt holen. So etwas habe ich nie zuvor erlebt. Und nie später.«
»Und er?«
»Stand bloß da und grinste.«
Erlendur verstummte.
»Glaubst du, dass es sein Kind war?«
Marian zuckte die Achseln.
»Kolbrún hat das immer behauptet.«
»Hat Kolbrún dir gegenüber eine andere Frau erwähnt, die Holberg vor ihr vergewaltigt hat?«
»Gab es eine andere?«
Erlendur berichtete, was Elliði gesagt hatte, und bald hatte er die wichtigsten Details der Ermittlung dargelegt. Marian Briem saß da, rauchte den Zigarillo und hörte zu. Die Augen waren starr auf Erlendur gerichtet, klein, wach und stechend. Ihnen entging nichts. Sie sahen einen müden Mann mittleren Alters vor sich, der dunkle Ringe unter den Augen hatte, Bartstoppeln, die einige Tage alt waren, buschige Augenbrauen und rötlich braunes Haar, das in alle Richtungen stand, starke Zähne, die manchmal unter blutleeren Lippen zum Vorschein kamen. Sein gequälter Gesichtsausdruck zeugte von dem menschlichen Abschaum, den er gesehen hatte. In den Augen von Marian Briem zeigten sich Mitleid und die traurige Gewissheit, dass sie in ihr eigenes Spiegelbild blickten.
Erlendur war von Marian Briem ausgebildet worden, als er bei der Kriminalpolizei anfing, und alles, was er in den ersten Jahren lernte, hatte Marian ihm beigebracht. Genau wie Erlendur verfügte Marian über eine enorme Erfahrung, hatte aber niemals eine Führungsposition innerhalb der Polizei innegehabt, sondern sich immer nur mit den regulären Aufgaben eines Kriminalbeamten befasst. Das Gedächtnis war unfehlbar und hatte auch im Alter keineswegs nachgelassen. Alles, was Augen und Ohren aufnahmen, wurde registriert und in unbegrenzten Gehirnkapazitäten gespeichert, um dann bei Bedarf ohne jegliche Anstrengung abgerufen zu werden. Marian konnte alte Fälle bis ins kleinste Detail rekapitulieren, ein Ausbund an Wissen in allen Belangen der isländischen Kriminalgeschichte. Messerscharfe Schlussfolgerungen und ausgefuchste Logik.
Unter den Kollegen galt Marian Briem als ungeheuer pedantisch, anspruchsvoll, ungeduldig und unerbittlich, wie Erlendur einmal zu Eva Lind gesagt hatte, als das Thema aufkam. Jahrelang hatte es tiefe Verstimmungen zwischen ihnen gegeben, was dazu geführt hatte, dass sie kaum miteinander sprachen. Erlendur legte das so aus, dass er Marian in irgendeiner Form enttäuscht hatte. Seiner Meinung nach kam das immer deutlicher zum Ausdruck, bis der große Mentor endlich zur großen Erleichterung von Erlendur aus Altersgründen von der Bühne verschwand.
Nachdem Marian aufgehört hatte, war ihre Beziehung wieder besser geworden. Die Spannungen verringerten sich, das Konkurrenzdenken war verschwunden.
»… und deswegen fiel mir ein, dich zu besuchen und herauszubekommen, an was du dich in Bezug auf Holberg und Elliði und Grétar erinnerst«, sagte Erlendur schließlich.
»Du machst dir doch wohl keine Hoffnungen, dass du Grétar nach all den Jahren findest?«, fragte Marian und klang verwundert. Einen Moment glaubte Erlendur, Besorgtheit in Marians Miene zu entdecken.
»Wie weit warst du in Sachen Grétar gekommen?«
»Ich habe dabei gar nichts ausrichten können, denn ich war überhaupt nicht mit dem Fall befasst«, sagte Marian. Erlendur freute sich einen Augenblick, denn er glaubte so etwas wie einen entschuldigenden Ton herauszuhören. »Er verschwand wahrscheinlich an demselben Wochenende, als di e Ju biläumsfeierlichkeiten in Þingvellir stattfanden. Ich habe mit seiner Mutter gesprochen und seinen Freunden und Kollegen Holberg und Elliði. Grétar arbeitete damals, als er verschwand, als Hafenarbeiter bei Eimskip. Es wurde allgemein angenommen, dass er beim Löschen eines Frachtschiffs über Bord gegangen sei. Die anderen sagten aus, dass es ihnen nicht hätte entgehen können, wenn er in den Laderaum gefallen wäre.«
»Wo waren Holberg und Elliði zu der Zeit, als Grétar verschwand? Kannst du dich daran erinnern?«
»Sie erklärten beide, an der Feier in Þingvellir teilgenommen zu haben, und das konnten wir auch überprüfen. Aber es war natürlich ganz unklar, wann genau Grétar
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