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Nordermoor

Nordermoor

Titel: Nordermoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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dreißig Jahre alte Wunde aufriss. Jeder Schaufelstich tat ihm weh. Der Erdhaufen wurde immer größer, und je tiefer das Loch wurde, desto mehr Dunkelheit verschwand darin. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl wie ein Déjà-vu, so als hätte er das alles schon einmal im Traum gesehen, und für einen Augenblick bekam die Szene vor ihm etwas von einer Vision; seine Kollegen von der Kripo, die dastanden und in das Grab hinunterschauten, die städtischen Angestellten in ihren orangefarbenen Overalls, die sich auf ihre Schaufeln lehnten, der Priester, der einen dicken schwarzen Mantel trug, der Regen, der in das Grab strömte und wieder in der Baggerschaufel hochkam, so als ob das Loch blutete.
    Hatte er das wirklich genauso geträumt?
    Dann wich dieses Gefühl, aber wie immer, wenn ihm dies passierte, konnte er überhaupt nicht verstehen, woher es kam. Warum er Ereignisse wiedererlebte, die nie zuvor passiert waren. Erlendur glaubte nicht an Zeichen, Gesichte und Träume, er glaubte nicht an Reinkarnation oder Karma, er glaubte nicht an Gott, obwohl er häufig in der Bibel las, nicht an ein ewiges Leben oder daran, dass sein Verhalten in diesem Leben Einfluss darauf hatte, ob er im Himmelreich oder in der Hölle landen würde. Er fand, dass das Leben als solches einem sowieso schon eine gute Mischung aus beidem bot.
    Aber dann erlebte er manchmal dieses unerklärliche und übernatürliche Déjà-vu, erlebte Ort und Zeit, als habe er das alles schon einmal gesehen, als steige er aus sich selbst heraus, verwandle sich plötzlich in einen Zuschauer an seinem eigenen Leben. Er konnte sich überhaupt nicht erklären, was da geschah und warum, warum sein Geist auf diese Weise mit ihm spielte.
    Erlendur kam wieder zu sich, als die Baggerschaufel an den Sargdeckel stieß, was einen hohlen Klang erzeugte. Er trat einen Schritt näher. Der Regen strömte in das Loch, doch er konnte den Sarg erkennen.
    »Vorsichtig!«, rief Erlendur dem Baggerführer zu und hob die Hände wie in Abwehr.
    Aus den Augenwinkeln bemerkte er die Scheinwerfer eines Autos, das sich näherte. Alle blickten in Richtung der Lichter und sahen, wie das Auto langsam im Regen vorwärts kroch, bis es am Friedhofstor anhielt. Sie sahen das Taxischild auf dem Dach. Eine ältere Frau in grünem Mantel stieg aus. Das Taxi verschwand, und die Frau kam auf das Grab zugestürmt. Als Erlendur in Hörweite war, schrie sie auf ihn ein und drohte ihm mit der geballten Faust.
    »Grabschänder!«, hörte er Elín rufen. »Grabschänder! Leichenschänder!«
    »Versucht sie zu beschwichtigen«, sagte Erlendur ruhig zu den Polizisten, die auf Elín zugingen und sie anhielten, als sie einige Meter vom Grab entfernt war. Sie versuchte sich in wildem Zorn zu wehren, aber sie packten sie bei den Händen und hielten sie fest.
    Die beiden städtischen Angestellten stiegen jetzt mit ihren Schaufeln in das Loch, gruben den Sarg frei und befestigten Traggurte an seinen Enden. Der Sarg war ziemlich heil geblieben. Der Regen trommelte auf den Deckel und wusch die Erde ab. Erlendur stellte sich vor, dass er weiß gewesen war. Ein kleiner weißer Sarg mit Messinggriffen an den Seiten und einem kleinen Kreuz auf dem Deckel. Die Männer befestigten die Traggurte an der Schaufel des Baggers, der den Sarg ganz vorsichtig hochhievte. Er war zwar unversehrt, wirkte aber äußerst zerbrechlich. Erlendur sah, dass Elín aufgehört hatte, um sich zu schlagen und ihn zu beschimpfen. Sie hatte angefangen zu weinen, als der Sarg zum Vorschein kam und einen Augenblick bewegungslos über dem offenen Grab schwebte. Ein kleiner Lieferwagen fuhr langsam rückwärts an das Grab heran. Der Sarg wurde auf den Boden gestellt und die Traggurte gelöst. Der Pfarrer trat heran, machte das Zeichen des Kreuzes darüber und bewegte die Lippen in einem Gebet. Die Arbeiter hobe n den Sarg in das Auto und schlo ssen die Tür. Elinborg setzte sich vorn neben den Fahrer, der losfuhr in Richtung Friedhofstor und auf die Straße hinaus, bis die roten Rücklichter im dunklen Regen verschwanden.
    Der Pfarrer trat zu Elín und bat die Polizisten, sie loszulassen, was sofort geschah. Er fragte, ob er etwas für sie tun könne. Sie kannten sich offensichtlich gut und sprachen halblaut miteinander. Elín schien etwas ruhiger zu sein. Erlendur und Sigurður Óli blickten sich an und schauten dann hinunter in das Grab. Das Regenwasser begann sich auf dem Boden anzusammeln.
    »Ich wollte versuchen, diesen Skandal, diese Entweihung

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