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Nordermoor

Nordermoor

Titel: Nordermoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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so mit deinem Leben umzugehen? Was für ein Recht hast du, mit dem Leben in dir so umzugehen? Du glaubst wohl, dir geht es unheimlich dreckig? Du glaubst wohl, dass es niemandem dreckiger geht als dir? Ich muss mich mit dem Tod eines kleinen Mädchens befassen, das noch nicht einmal vier Jahre alt wurde. Sie wurde krank und starb. Es war etwas Unbegreifliches, was sie zerstört und getötet hat. Ihr Sarg war einen Meter lang. Hörst du, was ich dir sage? Was für ein Recht hast du zu leben? Sag mir das!«
    Erlendur hatte angefangen zu brüllen. Er war aufgestanden und hämmerte so mit den Fäusten auf dem Küchentisch, dass die Tassen umkippten, und als er das sah, nahm er sie und knallte sie an die Wand hinter Eva Lind. Die Wut überkam ihn so, dass er für einen Augenblick die Beherrschung verlor. Er schmiss den Küchentisch um und fegte Teller, Töpfe und Gläser von den Schränken. Eva Lind saß unbeweglich auf ihrem Stuhl, sah zu, wie ihr Vater völlig aus der Fassung geriet, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    Endlich klang Erlendurs Wut ab, er wandte sich Eva Lind zu und sah, wie ihre Schultern zuckten und sie das Gesicht in den Händen verbarg. Er schaute auf seine Tochter, das dreckige Haar, die schmalen Arme, die Handgelenke, die kaum breiter waren als seine Finger, den schmalen zitternden Körper. Sie war barfuß, und unter den Nägeln hatte sie Trauerränder. Er ging zu ihr hin und versuchte, ihr die Hände vom Gesicht zu nehmen, aber sie wehrte ihn ab. Er wollte sie um Verzeihung bitten. Er wollte sie in die Arme nehmen. Er tat weder das eine noch das andere.
    Stattdessen setzte er sich neben sie auf den Fußboden. Das Telefon klingelte, aber er ging nicht dran. Das Mädchen im Schlafzimmer rührte sich nicht. Das Telefon hörte auf zu klingeln, und dann war es wieder still in der Wohnung. Die einzigen Laute waren das Schluchzen von Eva Lind. Erlendur wusste, dass er alles andere als ein guter Vater war, und die Rede, die er da vom Stapel gelassen hatte, hätte genauso gut auf ihn selber gepasst. Wahrscheinlich hatte er nicht weniger mit sich selbst geredet als mit Eva Lind, und er war wütend auf sich selbst geworden, und nicht auf sie. Ein Psychologe hätte diagnostiziert, dass er seinen Zorn an dem Mädchen ausgelassen hatte. Aber vielleicht hatte das, was er gesagt hatte, irgendwelchen Einfluss. Er hatte Eva Lind nie zuvor weinen sehen. Nicht seit sie klein gewesen war. Er hatte sie verlassen, als sie zwei Jahre alt war.
    Endlich nahm Eva Lind die Hände vom Gesicht, zog die Nase hoch und strich sich durchs Gesicht.
    »Es war ihr Vater«, sagte sie.
    »Ihr Vater?«, fragte Erlendur.
    »Der Grauenvolle«, sagte Eva Lind. »Er ist grauenvoll. Was habe ich getan? Das war ihr Vater. Fing an, an ihr rumzufummeln, als sie einen Busen kriegte, und dann ging er immer weiter. Ließ sie nicht einmal auf ihrer eigenen Hochzeit in Ruhe. Drängte sie in einen Flur und sagte, sie sei so sexy in ihrem Brautkleid, dass er sich nicht beherrschen könnte. Er würde es nicht ertragen, dass sie von ihm ginge. Fing an, sie zu begrapschen. Sie ist ausgerastet.«
    »Was für ein Sumpf!«, ächzte Erlendur.
    »Ich wusste, dass sie manchmal Stoff nahm. Sie hat mich schon mal gebeten, ihr was zu verschaffen. Sie ist vollkommen ausgerastet und zu Eddi gegangen. Seitdem hat sie da in dieser Absteige rumgelegen.«
    Eva Lind verstummte.
    »Ich glaube, ihre Mutter hat davon gewusst«, sagte sie schließlich nach einer Weile. »Die ganze Zeit. Hat nix gemacht. Zu feines Haus. Zu viele Autos.«
    »Will sie keine Anzeige erstatten?«
    »Wow!«
    »Was?«
    »Den ganzen verdammten Quatsch durchstehen, damit er vielleicht drei Monate auf Bewährung bekommt, wenn man ihr glaubt? Come on!«
    »Was will sie machen?«
    »Sie wird zu dem Typ gehen. Ihrem Mann. Sie hat ihn, glaube ich, sehr gern.«
    »Macht sie sich selber Vorwürfe?«
    »Sie weiß überhaupt nicht, was sie denken soll.«
    »Weil sie geschrieben hat, was habe ich getan. Sie hat sich selber die Schuld gegeben.«
    »Das ist ja wohl kein Wunder, wenn sie so durcheinander ist.«
    »Und dann hat es immer den Anschein, als ob diese scheißperversen Typen kein Wässerchen trüben könnten. Lächeln penetrant. Als ob diese verdammten Idioten nie von Gewissensbissen geplagt werden.«
    »Rede nie wieder so mit mir«, sagte Eva Lind. »Bitte rede nie wieder so mit mir.«
    »Hast du auch noch bei anderen als bei Eddi Schulden?«
    »Bei einigen. Aber Eddi ist das Problem.«
    Wieder

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