Nordseefluch: Kriminalroman
besorgen.
»Ihr Kollege Stinga war ein Aussteiger. Nach dem, was wir bisher über ihn wissen, stand er mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Realität«, sagte der Kommissar und blickte in Richtung Wohnhaus.
»Den Tod seiner kleinen Marion hat er nicht verkraftet«, antwortete ich. »Außerdem besteht der Verdacht, dass er selbst zum Mörder geworden ist.«
»Er hatte einen Blackout, wie man so sagt«, meinte der Kommissar.
Heiko Ekinger erschien mit einem Spaten und begann vorsichtig die lockere Erde abzutragen. Er hatte eine Tiefe von dreißig Zentimetern erreicht, als das Spatenblatt auf Holz stieß.
Wir bückten uns und gruben mit den Händen einen Holzdeckel frei. Dicke Nägel verbanden ihn mit massiven Kanten. Ich beobachtete, wie der Assistent schwitzend die Seiten des vergrabenen Gegenstandes freischaufelte.
»Das könnte eine Truhe sein«, sagte er und legte den Spaten beiseite. Wir griffen nach den Holzkanten und zogen mit vereinten Kräften eine alte Eichenwiege aus der lockeren Erde.
»Ein historisches Erbstück«, sagte Ekinger und säuberte es von der losen Erde. Dann zwängte er den Spaten unter die Abdeckung, drückte die Holzplatte hoch und entfernte sie. Obenauf lag etwas Weißes, Seidenes. Pietsch hob es hoch.
»Das ist ein Taufkleidchen!«, rief Ekinger überrascht.
Ich sah das hemdartige Gewand mit zarten Rosabändern.
Ekinger fuhr fort: »Chef, das dürfte mehr als hundert Jahre alt sein. Eine ostfriesische Tradition. Taufe der Urenkelinnen in Großmutters Taufkleidchen.«
Der Kommissar legte das Taufkleid über den Trog. Wir fanden in brüchigem Leder gebundene Fotoalben. Sie enthielten Aufnahmen junger Gesichter aus alten Zeiten. Auch die Alben legten wir auf den Trog. Kleine handgearbeitete Deckchen erinnerten mit eingestickten Daten an grüne, silberne und goldene Hochzeiten.
Der Kommissar entnahm der Wiege einen Lederbeutel aus rissigem Leder. Er enthielt zu unserer Überraschung alte Goldmünzen und eine Taschenuhr, auf deren Außendeckel wir eine Gravur ablasen.
Stingus Stinga 24. 11. 1854.
Zwei Sparbücher, eines von der Stadtsparkasse, das andere von der Oldenburgischen Landesbank, zeigten hohe Summen. Doch dann entdeckten wir erschüttert das marineblaue T-Shirt, die gelbe Latzhose und die Sandalen. Selbst Hemdchen und Höschen der toten Marion holte der Kommissar aus der Truhe.
Verwundert schauten wir auf die zerrissene Wäsche des Kindes. Pietsch legte sie auf den Trog zu den anderen Sachen. Auf dem Boden der Wiege lag ein geschnitztes Holzkruzifix.
Ich fühlte mich erschlagen. Draußen vor dem Schafstall rang ich nach Luft und schwitzte. Ich lehnte mich an die Holzbohlen und wusste, dass Stinga selbst Brett für Brett an die Balken genagelt hatte. Mein Blick glitt über die weiten Weiden, die nicht zu enden schienen. Stingas Schafe hatten die Köpfe geneigt und grasten friedlich. Die gelben Dotterblumen leuchteten im grünen Teppich. Der Himmel war blau und die Welt war schön.
Doch Habbo Stinga hatte für alles kein Interesse mehr gezeigt. Ihn hatte nur noch ein Kälberstrick fasziniert, als er sich vom Leben verabschiedet hatte. Dabei stand die Frage immer noch ungeklärt vor mir, warum er den gut aussehenden jungen Kutscher Norbert Batinga aus dem Leben gerissen hatte, der das Glück einer alternden adeligen Schönheit war.
Ich beobachtete, wie Ekinger zum Weidetor schritt, der Kommissar die Schafe am Verlassen der Weide hinderte und der Bully sich dem Schafstall näherte.
Der Rest einer alten Familientradition verschwand im Inneren des Bullys. Das alte ostfriesische Geschlecht der Stingas hatte aufgehört zu existieren.
Heiko Ekinger schlug die Bullytür zu.
»Ihr Kollege war schon ein seltsamer Vogel«, sagte er.
Der Fahrer steuerte den Bully am Deich entlang in Richtung Norden, während wir das Gespräch suchten.
»Ihr Kollege Stinga hat in seiner Panik tatsächlich Selbstmord begangen, nachdem er zuvor alle Spuren seiner Familientradition vor der Nachwelt beseitigt hatte«, sagte der Kommissar.
»Mich wundert es, dass er keinen Abschiedsbrief hinterlassen hat«, antwortete ich nachdenklich, »denn ich kenne ihn nur als einen äußerst korrekten Beamten. Dieses Davonschleichen passt nicht zu seinem Charakter.«
»Habbo Stinga war am Tatort«, sagte Heiko Ekinger. »Uns fehlt allerdings noch der Beweis, dass er den Kutscher umgebracht hat, obwohl wir das als Tatsache verbuchen können.«
»Nun, wir haben auch keinen weiteren Mörder auf der
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