Nordseefluch: Kriminalroman
aufnehmen, Manfred?«, fragte der Professor mit milder, beruhigender Stimme.
Der Schüler winkte ab. Professor Loraner drückte auf den Knopf des vorbereiteten Aufnahmegerätes.
»Wir haben deinen Lehrer dazugebeten. Die beiden Herren sind Kriminalbeamte, Manfred. Du hast Fortschritte gemacht. Einige Ereignisse sind dir in letzter Zeit bewusst geworden. Kannst du uns berichten, wie das war, als Herr Färber und die beiden Kriminalbeamten dich aus deinem Schlaf geweckt haben?«
Ich entzog mich seinem brennenden Blick, schaute in den Park, sah dort die armen Wesen, die ihre Identität verloren hatten und wie Gefangene von weiß gekleidetem Personal beaufsichtigt wurden.
»Da war bereits alles gelaufen«, sagte Manfred.
Ich vernahm seinen mir vertrauten Tonfall. Seine Stimme klang weder aufsässig noch weinerlich. Sie bettelte nicht nach Mitleid.
»Beginne bei dir zu Hause«, forderte der Professor Manfred auf.
»Die Bude war ein Loch«, sagte Manfred leise. »Ich hasste das Zimmer, das mir Unheil zu bringen drohte. Dennoch musste ich Oberschwester Ursula dankbar sein, denn während der Saison vermieten die Insulaner selbst ihre Schlafzimmer. Ich tröstete mich mit Corvit. Er spülte fort, was mich bedrückte. Auch wenn ich Eis verkaufte, hatte ich immer einen bei mir.«
Ich sah Manfred an. Er hatte das mit Stolz gesagt, als hätte er damit nicht sich selbst, sondern die Umwelt betrogen.
»Irgendwann kaufte ein freundliches, hübsches junges Mädchen bei mir Eis. Sie war nett. Ich nannte sie Goldfasan, da sie goldgelbe Haare hatte und ein Gesicht wie ein Engel, der mich aus meiner Misere erretten konnte.«
Manfred strahlte, als hätte der Schöpfer es ihm gestattet, einen Blick ins Paradies zu werfen.
Er fuhr fort: »Das Mädchen zog mich magisch an. Verstehen Sie das?«, fragte er misstrauisch. Sein Blick huschte über die Gesichter der Kriminalbeamten, dann zu mir.
Ich nickte.
»Und deine Misere, Manfred? Was bedrückte dich?«, fragte der Professor, der das Seelenleben des Schülers immer wieder zu erforschen versucht hatte.
Manfred richtete seinen Blick auf den Boden. Plötzlich sagte er laut und heftig: »Die Mädchen ekelten mich an, wenn sie bei mir Eis kauften, herausfordernd mit den Hintern in ihren Jeans wackelnd, arrogant, wie dumme Gänse. Dabei waren sie doch nur miese Typen! So war Goldfasan nicht. Er verstand mich. Er mochte mich!«
Das Besucherzimmer war kühl, dennoch brach mir der Schweiß aus. Manfreds Anklage gegen die Gleichaltrigen des anderen Geschlechts gab mir zu denken.
»Irgendwann stand ich unter Sprit, suchte Goldfasan und fand ihn nicht. Ich wollte das Mädchen nur anschauen und mich mit ihm unterhalten. Ich war verzweifelt. Ich wollte mich ins Meer stürzen, doch das brachte ich nicht fertig. Ich trank eine ganze Flasche Corvit leer und fühlte mich wertlos wie Abfall, den sie vor meiner Bude in den Container kippten, und musste schrecklich heulen.«
Wir wagten es nicht, ihn zu unterbrechen. Manfred saß vor uns wie in Trance. Sein Blick haftete auf dem Boden. Er sprach vor sich hin, als suche er selbst nach Klarheiten.
»Der Schnaps half mir, mit meiner Einsamkeit fertig zu werden. Irgendwo in den Dünen habe ich geweint und gepennt. Dann habe ich mich wegen meiner Schwäche und des Selbstmitleids geschämt, habe mit mir geredet und geschimpft. Eine Pistole habe ich mir gewünscht, um mich zu erschießen, denn mein Kopf war voller Nebel und Ungereimtheiten. Doch plötzlich geschah Sonderbares! Wie in den Kinderbüchern, die in den Heimen meine Welt verzaubert hatten, tanzten vor meinen Augen Gestalten! Sie waren echt und körperlich anwesend! Ein Zwerg hüpfte mit lustigen Schritten durch die Nebelwolken und ein Jogger lief mit weiten Schritten, als schwebe er über die Schwaden, und entfernt stand ein Riese versteckt hinter Sträuchern. Doch das Traumreich wurde bedrohlich. Vor meinen Füßen lag plötzlich Goldfasan! Schön wie Dornröschen im Schlaf! Er war nackt! Goldfasan!, habe ich gerufen, ihn auf meine Arme genommen und den blonden Engel aus den glühenden Dünen getragen, denn der Sand unter ihr hatte plötzlich eine rote Farbe. Ich schwebte über die Hügel mit meinem Goldfasan auf den Armen einer fürstlichen Kutsche entgegen, die dort auf uns wartete. Ich war der Prinz, hatte Goldfasan erlöst und legte meinen Engel sanft auf die Polster der Kutsche. ›Goldfasan! Wach auf! Wir essen Eis, herrliches, kühles Eis!‹, rief ich, nahm die Zügel, lockerte die
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