Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
und Maria jetzt ein Ihr waren. Das klang so entlarvend. Oder hatte sie vielleicht gar nicht Maria gemeint?
»Ich weiß nicht.«
Als er seine eigene kraftlose Stimme hörte, wurde ihm bewusst, wie leid er es war, sich in diesem trostlosen und unpersönlichen Hotelzimmer aufzuhalten. Er und Ellen hatten von zu Hause nur ein paar Kleidungsstücke mitgebracht, die sie nicht einmal selbst eingepackt hatten. Seine Welt schien sich in mehrere Zeitachsen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit aufgelöst zu haben. Es waren zehn Sekunden vergangen, seit er die Tür zu dem Blutbad in Kalbjerga geöffnet hatte. Es war einen Monat her, dass sie die Polizei in dieses Hotel am Hafen gesteckt hatte.
»Ich fahre morgen mit euch nach Hause«, sagte Maria.
Henrik und Maria hatten nicht darüber gesprochen, aber als sie das sagte, erschien es ihm vollkommen selbstverständlich. Sie gehörte nicht hierher. Sie hatte woanders ein Leben und war nur zufällig hiergeblieben.
»Ach so, natürlich«, sagte Ewy.
Henrik wusste nicht, was sie damit meinte, machte sich aber nicht die Mühe, es zu verstehen.
Staffan, der mit Ellen beschäftigt war, murmelte etwas von Flug. Seine Nichte stieg zielstrebig seine Beine hinauf, während er sie an den Händen festhielt. Sie machte einen Salto rückwärts und prallte dumpf auf den weichen Hotelteppich. Mit Staffan wollte sie immer dieses Kunststück üben. Da sie für ihr Alter recht klein war, funktionierte es immer noch.
Für einen Augenblick verlor sich Henrik in ihrem Spiel. Was hätte er ohne Ellen gemacht? Nicht auszudenken, wenn Maria und sie nicht an den Strand gegangen wären. Wenn Axel und Ellen beide …
Er kniff die Augen zusammen.
»Für die Kleine muss es hier doch viel zu eintönig sein«, sagte Ewy.
Henrik öffnete die Augen wieder und wandte sich seiner Schwiegermutter zu. »Ich werde versuchen, eine Wohnung zu finden«, sagte er. »Vielleicht kann sich auch die Polizei darum kümmern und ein paar von Ellens Sachen holen.«
»Haben sie etwas zum Haus gesagt?«
Als er Ewy mit ihrer brüchigen und kraftlosen Stimme die praktischen Fragen stellen hörte, dachte er, dass ihr das lieber erspart werden sollte. Es hätte ihr zugestanden, sich in ihrer Trauer hinzulegen, die Augen zu schließen und zu schweigen, was sie vermutlich auch am liebsten getan hätte. Tapfer, dachte Henrik. Ein Wort, das selten gebraucht wurde.
»Sie müssten bald fertig sein mit dem Haus. Aber vielleicht wollt ihr gar nicht …« Ewy machte eine kleine Bewegung mit den Lippen, als wollte sie die Frage wieder hinunterschlucken.
»Ich weiß nicht«, antwortete Henrik schwerfällig. »Wirklich nicht. Aber du hast natürlich recht. Hier können wir nicht bleiben.«
Ewy griff nach ihrer Handtasche und zog eine Dose Halspastillen heraus. Sie steckte sich eine in den Mund und reichte das Döschen anschließend an Ellen weiter. Nach kurzem Zögern kam Ellen auf ihre Oma zu und fingerte sich eine Pastille heraus.
»Du kannst die ganze Dose haben«, sagte Ewy.
Sie lächelte Ellen liebevoll an und wandte sich wieder Henrik zu.
»Wir beide haben wohl eine ganze Menge zu besprechen, aber ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Sie wendete die Pastille mit einem leisen Schmatzen in ihrem Mund.
Staffan schlug Henrik vor, sie zum Hotel zu begleiten. Nachdem sie ihr Gepäck abgestellt hätten, könnten sie dort gemeinsam zu Mittag essen. Falls die Polizei keine Einwände hätte.
Henrik konnte sich kaum vorstellen, dass er in Gesellschaft von Maria, Ewy und Staffan mehr als ein Glas Wasser hinunterbekommen würde. Er würde sich seine innere Zwangsjacke so eng wie möglich schnüren müssen, um nicht alle Geheimnisse herauszuschreien.
Nein, das stimmte nicht. Er würde kein Wort sagen. Niemals. Vorher müssten sie ihn foltern. Aber er hatte das Gefühl, langsam kaputtzugehen. Irgendetwas würde dann gegen seinen Willen aus ihm heraussickern.
Der Polizist, der vor der Tür Wache hielt, hatte nichts gegen ihren Spaziergang einzuwenden, rief aber sicherheitshalber kurz seinen Vorgesetzten an, bevor sie gemeinsam losgingen.
Sie nahmen den oberen Weg. Henrik hatte keine Ahnung, ob der kürzer oder aus irgendeinem Grund besser war, sicherer. Brauchten sie den Schutz wirklich? Er nahm an, dass die Polizei wusste, was sie tat, aber er selbst fühlte sich nicht bedroht. Die Bilder von Malin und Axel, blutüberströmt und mit zerschmetterten Schädeln, überschatteten alles andere. Da war kein Platz, um sich in
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