Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
düsteren Farben auszumalen, was ihnen alles zustoßen könnte. Das Schlimmste war ja bereits passiert.
Als sie durch den rauen Kalksteinbogen der Skansporten gingen, knatterte Staffans Rollkoffer laut über das Pflaster. Ewy warf hastig einen Blick zur Turmruine hinauf. Henrik holte einige Male tief Luft und fixierte einen Punkt am Ende der Straße. Ihm war schwindlig. Abgesehen davon, dass er in ein Auto gestiegen war, das ihn zum Polizeigebäude kutschierte, hatte er das Hotel fünf Tage lang nicht verlassen. Auslauf hatten sie auf dem Hinterhof des Hafenhotels gehabt. Wie Häftlinge. Vielleicht hätten sie sich auch weiter entfernen dürfen. Er war gar nicht auf die Idee gekommen, danach zu fragen.
Er hielt Ellen an der Hand, Staffan, Ewy und Maria gingen nebeneinander vor ihnen her. Die Ordnung war wiederhergestellt. Die Familie Andersson für sich und dahinter seine eigene halbe Familie. Der Polizist bildete das Schlusslicht.
Als sie die kühle, dunkle Lobby des Hotel Wisby betraten und Henrik den Verbindungsgang zum Restaurant Friheten sah, gaben seine Beine unter ihm nach.
Die Erinnerungen stürzten plötzlich über ihn herein. Das Restaurant. Er und Malin. Die Schlüsselkarte in seiner Tasche, die als Überraschung gedacht war. Maria mit den Kindern zu Hause.
Mit reiner Willenskraft schleppte er sich auf das nächste Sofa zu und ließ sich darauffallen.
»Was ist los?« Staffan kniff besorgt die Augen zusammen.
»Ich kann hier nicht Mittag essen«, flüsterte Henrik. »Ich …«
Sein trockener Mund brachte die Worte kaum heraus.
»Malin und ich …« Er versuchte sich umzudrehen und auf das Restaurant zu deuten.
»Wir gehen woandershin.« Staffan legte ihm die Hand auf die Schulter. »Oder möchtest du lieber zurück?«
»Nein. Nicht zurück«, murmelte er. Staffans Hand war glühend heiß.
»Wir checken nur schnell ein, dann gehen wir«, sagte Staffan.
Er zog seinen Koffer an die Rezeption und hinterließ einen Brandfleck auf Henriks Schulter. Maria und Ewy folgten ihm an den Empfangstresen, und Ellen setzte sich neben Henrik. Er hörte ihre Stimmen. Ihre Namen. Einen scharrenden Stift auf Papier.
Eine Ewigkeit später waren sie fertig. Staffan und Ewy kannten natürlich kein anderes Lokal. Sie warteten auf Henriks Vorschlag. Aber wozu sollten sie überhaupt essen? Es kam ihm so absurd vor, dass Menschen in Trauer etwas zu sich nahmen. Aber auch Trauernde mussten essen. Vielleicht war es das Einzige, was trauernde Familien gemeinsam tun konnten. Sie konnten sich an die praktischen Dinge klammern. Ans nackte Überleben. Schlaf. Essen.
Er nahm sie mit ins Bakfickan, das kleine Fischrestaurant neben der Kirchenruine am Stora Torget. Henrik aß oft dort, wenn er in Visby war. Man kannte ihn da.
Er merkte, dass die Kellnerin bei ihrem Eintreten zusammenzuckte und nicht wusste, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollte. Da sie die ersten Gäste waren, konnten sie am Fenster sitzen. Die ehemalige Fleischerei verfügte nur über wenige Tische.
»Sie können gerne mit uns essen«, sagte Staffan zu dem Polizisten.
»Danke, aber ich warte besser draußen.«
Nach einem kurzen Blick ins Lokal ging der Beamte wieder hinaus.
Seltsamerweise konnte Henrik essen. Den gegrillten Lachs und eine kleine Kartoffel. Beim Kaffee fing Ewy von der Beerdigung an. Sie wollte, dass Malin und Axel auf dem Festland begraben wurden. Das war ihr persönlicher Wunsch. Sie war jedoch der Meinung, dass Henrik die Entscheidung treffen sollte. Wenn er Gotland vorzog, hatte sie nichts dagegen einzuwenden.
»Aber das hängt wahrscheinlich von deinen Plänen ab.«
Henrik sah sie fragend an.
»Ob du hierbleiben willst. Ich fände es nicht richtig, wenn …«, sie warf einen Blick in Ellens Richtung und suchte nach einer angemessenen Formulierung, »… wenn sie hier liegen und du mit Ellen wieder nach Hause kommst … ich meine … zurück nach Stockholm. Dann bleiben sie ja alleine zurück.«
»Da hast du recht. Das wäre seltsam.«
Er versprach, gründlich darüber nachzudenken.
Staffan hatte keine Meinung dazu. Er überließ Henrik die Entscheidung. Maria murmelte nur: »Ach, sicher«, und nickte ihm zu.
Die Gräber waren Henrik überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen. Ihm hatten sich Phantasien von der Beerdigung aufgedrängt, aber die hatten sich in einer unbekannten Kirche abgespielt, die er mit keinem speziellen Ort in Verbindung brachte.
Er hatte Fårö und die Kirche mitten auf der Insel vor Augen.
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