Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
sollten sie wirklich so leicht davonkommen?
»Ja«, sagte er, »das stimmt wohl.«
»Eventuell kommt es dir komisch vor, aber ich würde mir wünschen, dass wir uns treffen. Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, aber vielleicht eben doch. Ich weiß es nicht. Du kannst ja darüber nachdenken.«
Auf der Beerdigung hatte er ein wenig mit Alma gesprochen. Er konnte nicht behaupten, dass sie ihm sympathisch gewesen wäre, dafür hatten zu viel Bitterkeit und Wut zwischen ihnen gestanden, aber sie hatte den Anschein gemacht, als wäre sie … ganz in Ordnung.
»Ja, klar«, sagte er, ohne zu wissen, was das genau bedeutete.
»Es gibt so viele Dinge, die ich dich gern fragen würde«, sagte Alma mit einem Anflug von Zärtlichkeit.
Alma Vogler, deine Schwester.
»Warum nicht«, antwortete er. »Wenn ich etwas Ordnung in mein Leben gebracht habe. Ich weiß nicht genau, wann wir wieder ins Haus einziehen können.«
Er hatte keine Ahnung, warum er log, es kam ihm einfach über die Lippen. Er wollte nicht verraten, dass sie wieder zu Hause waren.
»Das kann ich verstehen.«
»Aber dann, natürlich.«
Sie wechselten ein paar tastende Worte über Fårö und die Frage, ob er auch weiterhin seiner Arbeit von der Insel aus würde nachgehen können, wo er nun allein mit Ellen war. Er wusste es nicht. Er machte sich zwar viele Gedanken darüber, wie er überleben sollte, aber die drehten sich um viel Konkreteres. Tag um Tag, eine Stunde nach der anderen. Sie verabschiedeten sich, und er legte auf.
Alma Vogler, deine Schwester.
Der zarte warme Fleck verwandelte sich mit einem Schlag in eine Kralle, die ihm die Brust zerkratzte. Ihm blieb beinahe das Herz stehen, und er bekam fast keine Luft mehr. Würde er in Fårösund immer ein kleiner Junge bleiben?
Henrik unterdrückte den Schmerz und atmete ein paarmal tief ein. Ellen zuliebe musste er es schaffen. Das war sein leeres Mantra geworden, das er im Geiste stets vor sich hin murmelte. Ellen zuliebe musste er es schaffen.
Er wandte sich wieder dem Wohnzimmer zu und fragte sich, wie es wäre, eine Familie zu haben. Eine Schwester, die am Sonntag zum Essen käme.
Dann packte ihn die Angst. Wieso hatte sie ausgerechnet jetzt angerufen? Wusste sie bereits, dass er wieder da war?
82
In der Nacht hatte es geregnet, die Straßen in Visby waren noch nass. Als Fredrik aus dem Auto stieg, musste er riesige Pfützen umgehen, in denen sich der mit Wölkchen betupfte blaue Himmel spiegelte. Die Fahrzeuge, die auf der Norra Hansegatan an ihm vorbeifuhren, ließen das Wasser in Fontänen aufspritzen.
Als er oben im Flur der Kripo ankam, sah er Göran auf dem Weg zum Besprechungszimmer. Im Laufschritt holte er ihn ein.
»Haben die Kollegen in Malmö sie erwischt?«
»Nein.« Göran schüttelte den Kopf. »Aber sie haben die Frau vernommen, bei der Nyberg ein Zimmer gemietet hat. Den Rest erfährst du gleich.«
Fredrik folgte Göran in die Sitzung. Sie waren die Letzten, und er ließ sich auf einen freien Platz neben Gustav sinken. Ove und Sara bemerkten ihn gar nicht. Ove erzählte irgendetwas, und beide waren voll auf Oves Hände konzentriert, die er mit gespreizten Fingern vor sich auf dem Tisch hatte wie einen kleinen Zaun.
Göran legte sein Handy auf den Tisch. »Malmö hat Sonja Krstic vernommen, bei der Katja Nyberg wohnt«, begann er. »Nyberg ist am Montag mit neuer Frisur und neuer Haarfarbe von einer Reise zurückgekehrt.«
Einen Augenblick lang war es vollkommen still. Sie sahen sich an.
»Vorgestern hat sie sich erneut auf den Weg gemacht, ohne zu sagen, wohin sie wollte«, fuhr Göran fort.
»Klingt, als wäre sie abgehauen«, sagte Ove.
»Seit gestern Abend wird nach ihr gefahndet. Wir müssen ihre Kreditkarten und ihr Konto überprüfen, ob sie Fahrkarten oder Flugtickets gekauft oder größere Summen abgehoben hat und so weiter. Übernimmst du das, Ove?«
Der nickte.
»Krstic hat auch gesagt, dass es Katja Nyberg in letzter Zeit anscheinend nicht gut gehe und sie sich Sorgen mache«, fuhr Göran fort. »Eines Nachts vor gar nicht allzu langer Zeit fand sie Nyberg beinahe bewusstlos im Badezimmer. Katja Nyberg entschuldigte sich am nächsten Morgen und erklärte, sie sei in einer Bar zu mehreren Drinks eingeladen worden und hätte viel zu viel getrunken. Nyberg mutmaßte, dass ihr jemand was ins Glas geschüttet haben könnte, aber Krstic hatte das Gefühl, die ganze Geschichte mit den Drinks wäre frei erfunden, und Nyberg hätte selbst etwas
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