Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
ihrer Wäsche und dem restlichen Kram, den sie im Hotel gehabt hatten, aus dem Kofferraum. Er schloss den Wagen ab und reichte Ellen seine freie Hand. Um die Pforte aufzuschließen und sich mit dem Gepäck hindurchzuzwängen, musste er das Mädchen kurz loslassen. Als sie das Grundstück betreten hatten, schloss er hinter ihnen ab.
Katja Nyberg? Die aus dem Hotel St. Petri? Wurde sie etwa verdächtigt, oder wie hatte Fredrik Broman das gemeint? Das klang vollkommen absurd. Würde das jetzt so weitergehen? Wollten sie etwa jede Frau verfolgen, auf die er jemals ein Auge geworfen hatte?
Er versuchte sich Katja Nyberg auf Fårö vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Sie war eine junge Frau in einer Hotelbar in einem anderen Land.
Er blickte zum Waldrand hinüber und sah, dass es dort, wo die Bäume dichter standen, bereits dunkel wurde. Weit entfernt hörte er einen Vogel. Aber er hatte keine Ahnung von Vögeln, in seinen Ohren klang es eher nach einem Tier, das allein im Wald zurückgelassen worden war.
Hatte er sich richtig entschieden? Vielleicht hätten sie die Insel verlassen und ganz woanders hinziehen sollen.
»Papa?«
Ellen sah ihn fragend an. Er lächelte ihr zu, drückte ihre Hand und ging weiter auf das Haus zu.
Als sie näher kamen, wurde sein Unbehagen stärker, aber er hatte keine Angst. Er klammerte sich an Ellens Hand. Das gab ihm immerhin so viel Kraft, dass er nicht zusammenbrach. Er hätte nie geglaubt, dass es sich so anfühlte, wenn man jemanden verlor. Er hatte nicht erwartet, dass er sich so schrecklich einsam fühlen würde.
Henrik bat Ellen, unten an der Treppe zu warten, bis er den Schlüssel gefunden und die Haustür aufgeschlossen hatte. Vorsichtig öffnete er sie und warf einen Blick ins Innere des Hauses.
In Diele und Küche hatten die Ereignisse keine bleibenden Spuren hinterlassen. Nur ein Gefühl von Leere verriet, was sich hier abgespielt hatte. Die Diele war ausgeräumt worden. Jacken, Schuhe, Regenschirme, Schuhlöffel und alle möglichen Gegenstände, die an der Garderobe gehangen hatten, in Regale gestopft worden waren oder einfach herumgelegen hatten, waren verschwunden.
Henrik wusste nicht, wo die Sachen abgeblieben waren. Manches hatten sicher die Kriminaltechniker mitgenommen, aber den Rest? Hatte die Reinigungsfirma alles weggeworfen?
Er sagte sich, dass es keine Rolle spiele. Dann drehte er sich zu Ellen um und winkte sie herein.
»Komm.«
Er versuchte, freimütig ein paar Schritte ins Haus zu machen, obwohl seine Beine sich wacklig anfühlten und das Herz ihm bis zum Hals schlug. Aber er wollte seine Gefühle nicht auf Ellen übertragen. Für sie hatte der Raum keine besondere Bedeutung, und das sollte auch so bleiben. Sie wusste ja nichts. Nicht davon.
»Zieh dir die Schuhe aus«, ermahnte er sie, als sie über den blitzsauberen Fußboden gingen.
Es war fast seltsam, wie sauber und unschuldig alles wirkte. Wie hatten sie das angestellt? Die Wände waren strahlend weiß. Waren sie frisch gestrichen worden? Er schnupperte, aber es roch nicht nach Farbe.
Ellen stellte ihre Schuhe ab, und Henrik machte die Haustür zu. Er schloss ab, ging zur Schaltleiste der Alarmanlage, die hinter den Kleiderschränken platziert worden war, damit man sie vom Eingang aus nicht sah, und aktivierte die Kameras. Um sicherzugehen, dass alle drei Kameras funktionierten, schaltete er hastig zwischen ihnen hin und her. Die Pforte und der Weg oben am Parkplatz – die Treppe vor dem Haus – die Diele.
Henrik ging in die Küche, stellte die Einkäufe auf den Tisch und ließ sie dort. Er sah sich um und hatte wieder den Eindruck, in einem Sommerhaus zu sein, das den Winter über nicht bewohnt gewesen war. Als hätten er und Ellen sich von irgendjemandem ein Haus gemietet und einen kleinen Ausflug aufs Land gemacht. Ein Haus, das aus unerklärlichen Gründen bis oben hin voll war mit ihrem persönlichen Besitz.
Er hörte ein Plumpsen aus dem Wohnzimmer und ging hinüber. Ellen hatte sich in ihrer roten Jeansjacke aufs Sofa fallen lassen. Henrik setzte sich neben sie und legte ihr eine Hand aufs Schienbein.
Auf dem Wohnzimmertisch türmten sich CDs, DVDs und Zeitschriften, auf dem Fußboden lagen Spielsachen, auf einem Stuhl hing ein Pullover, in den drei gläsernen Kerzenständern steckten noch Wachsstummel. Vor dem Fenster wiegte sich der Flieder im Wind.
»Hast du Hunger?«, fragte Henrik.
Ellen schüttelte den Kopf.
Ihn beruhigten die praktischen Alltagstätigkeiten. Essen.
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