Nore Brand 03 - Racheläuten
Sylvia Brändli war Verlass. Sie hatte von Anfang an mit ihm gearbeitet. Vermutlich stand sie kurz vor der Pensionierung. Er nahm sich vor, sie zu fragen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Sie war eine Frau ohne Alter, wie man so sagte.
Sylvia Brändli war immer da. Ruhig, zuverlässig, diskret. Eine Idealbesetzung. Und unersetzlich.
Er wusste nichts von ihr, außer dass sie geschieden war, keine Kinder hatte und einmal im Jahr auf Sizilien Ferien machte. Seit Jahr und Tag in der gleichen Pension. So gab es nie etwas Besonderes zu erzählen, wenn sie zurückkam, ein bisschen gebräunt und mit entspannten Gesichtszügen. »Es war wunderbar wie immer. Dort, wo ich hingehe, ist es immer gleich und das finde ich erholsam«, sagte sie und vertiefte sich wieder in ihre Arbeit. Manchmal dachte Max Lebeau, Frau Brändli sei eigentlich wichtiger als er und alle anderen. Eigentlich brauchte es nur die Leute in der Werkstatt und Frau Brändli. Sie saß am Schaltpult der Firma, sie kannte alle, sie war über alles auf dem Laufenden, kannte die Firma in- und auswendig. Die Firma konnte zusammenpacken ohne Frau Brändli. Es kam vor, dass sie solche Witze machten in ihren Sitzungen, aber das Lachen müsste jedem im Hals steckenbleiben, der bereit war, sich diese Situation vor Augen zu führen. Lebeau vermutete, dass kein Einziger so weit dachte. Ganz im Gegenteil.
Jeder Mensch ist austauschbar. Das war einer der Lieblingssprüche von Oskar Schmied, Besitzer der Firma.
Gab es einen unmenschlicheren Gedanken?
Eine halbe Stunde noch hatte er Ruhe, dann würde es wieder losgehen. Er fürchtete, dass dieser Polizist bald wieder auftauchen würde. Dieser lange, dünne Kerl, der wie eine kleine Nummer wirkte. Er musste sich nicht einmal bemühen, so zu wirken, doch Max Lebeau spürte das Nervige in ihm. Es war gar nichts beruhigend Stumpfes an ihm. Dieser Kerl hatte feine Antennen, das spürte man, und es war Lebeau nicht leichtgefallen, seine Fragen in aller Ruhe zu beantworten.
Max Lebeau bewegte die Beine auf dem Tisch, um die Muskulatur zu lockern, da hörte er, wie seine Notizen auf den Boden segelten. Er schaute nicht hin. Sollte das Zeug doch segeln, die jahrelange Arbeit. Es hatte ihm doch nichts gebracht. Diese verdammte Firma.
Jahrzehntelang hatte man Vermessungsinstrumente gebaut und viel Geld verdient. Man hatte gut gelebt und sorglos.
Und eines Tages kam das böse Erwachen. Wie über Nacht war in Asien eine tödliche Konkurrenz entstanden. Natürlich nicht über Nacht, nur für alle Sorglosen hatte es so ausgesehen. Die Aufträge brachen ein. Man fragte ungläubig und beunruhigt nach. Die Antwort war einfach. Es waren die Preise. Die Kunden hatten längst die Qualität der Waren verglichen und waren zum Schluss gekommen, dass die Messgeräte aus Asien gut mithalten konnten, aber zu viel tieferen Preisen erhältlich waren.
Die Katastrophe schien von einem Tag auf den anderen über sie hereinzubrechen.
Doch keiner hatte mit Lebeau gerechnet. Die Firma stand auf der Kippe, als Max Lebeau in einer schicksalsträchtigen Sitzung den Rettungsring auswarf. Alle klammerten sich daran, ausnahmslos. Alle wussten instinktiv, dass diese Idee sie retten würde. So war es auch gekommen. Aber Lebeau war nicht glücklich geworden damit.
Er ballte seine Fäuste und presste sie auf die Augenhöhlen. Max Lebeau hatte es zugelassen, dass man ihm seinen Traum raubte, den einzigen Geistesblitz seines Lebens. Und er hatte sich nicht gewehrt, weil er nicht begriff, was vor sich ging. Seine Kollegen hatten seinen Traum geentert, um die Zukunft der Firma zu retten.
Es war auf dem ersten Spaziergang mit Katrin durch die Marktgasse geschehen. Sie waren verliebt und glücklich gewesen; die Welt schien nur da zu sein, um sie zu erfreuen.
Er sah sich, wie er mitten unter den Touristen stehen geblieben war. Er lächelte ihnen zu, dann folgte er ihren Blicken, schaute zum Turm hinauf, was es dort wohl zu sehen gäbe.
Da traf es ihn wie ein Blitz. Ihm war, als dringe sein Blick durch den Turm hindurch, durch das Uhrwerk in eine andere Welt. Er stand wie erstarrt und konnte seinen Blick nicht mehr losreißen.
Katrin musste ihn wachrütteln; sie zog den Widerstrebenden mit sich. Irgendwo unter den Lauben setzten sie sich hin. Er fühlte sich taumelig und verwirrt.
»Was ist mit dir?«, fragte sie. Sie schien beunruhigt. Es gab nicht viel, das sie aus der Ruhe bringen konnte.
Max Lebeau suchte nach Worten, er versuchte verzweifelt, die Füße
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