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Nore Brand 03 - Racheläuten

Nore Brand 03 - Racheläuten

Titel: Nore Brand 03 - Racheläuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marijke Schnyder
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auf den Boden zu bringen, doch vergeblich, etwas in ihm hatte sich verschoben. Sein Gleichgewicht war weg.
    Sie strich ihm durch die Haare und lachte. »Das gibt’s doch nicht! Der Uhrmacher hat den Turm zum ersten Mal gesehen!«
    Max Lebeau nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
    Sie bestellte zwei Tassen Milchkaffee und ließ ihn in Ruhe; sie hatte von Anfang an gewusst, wann es Zeit war dafür.

    Von da an verbrachte er seine ganze Freizeit damit, den Zeitglockenturm zu studieren, den Zytglogge. In den Sommermonaten stellte er sich an für Führungen.
    Tagsüber saß er in der Firma und abends und in seiner Freizeit beschäftigte er sich wie ein Besessener mit seinem Traum.
    Einige Jahre vergingen, bis die Miniatur auf dem Tisch in seiner Werkstatt stand und funktionierte, genauso wie das Vorbild.
    Max Lebeau war erleichtert. Er beherrschte sein Handwerk noch.
    Und eines Tages fügten sich die Dinge zusammen. Nicht so, wie er es sich gewünscht hatte.

    Max Lebeau sah, wie in der Firma alles aus dem Ruder lief. Die Bestellungen blieben aus. Man zehrte von den finanziellen Reserven. Die asiatischen Fabrikanten hatten ihnen den Rang abgelaufen. Max Lebeau, der Uhrmacher, sah sich wieder in der Werkstatt sitzen. Irgendwo im Jura. Der Gedanke gefiel ihm. Er gehörte in die Werkstatt und dies nicht nur in seiner Freizeit.

    Kurz vor dem Kollaps wurde Sitzung um Sitzung einberufen. Feuerwehrübungen. Man hatte längst mit Entlassungen angefangen. Geschont wurden die Ältesten und die Oberen. In umgekehrter Reihenfolge.
    Max Lebeau hatte das gesehen und geschwiegen. Man stand vor allem in Krisenzeiten sich selbst am nächsten. Die Jungen würden wieder Arbeit finden, sagte man sich, wenn das schlechte Gewissen sich meldete.
    Mitten in der letzten Krisensitzung begann Max Lebeau, die Dinge zu verbinden. Er hatte genau das, wonach alle blind und verzweifelt suchten. Eine rettende Idee.
    Das war die Miniatur, die in seiner Werkstatt stand.

    Wenn Max Lebeau über diese Dinge nachdachte, sah er seine Mutter vor sich. Oft hatte sie von Erleuchtungen gesprochen, doch Max hatte nie begriffen, was sie damit meinte. Sie war eine gläubige Mennonitin, und in den Augen ihres Sohnes lebte sie in einer anderen Welt. Max hatte nie begriffen, womit sie sich beschäftigte. So viele ihrer Worte blieben für ihn ohne Inhalt. Er spürte nur den großen Ernst ihrer Bedeutung; im Grunde war es einzig dieser tiefe Ernst, der ihn berührte. Das andere, das, was die Worte für sie wirklich bedeuteten, schien ihm unerreichbar. Sie sprach von Erleuchtungen. Das einzige Wort, das ihm auf einmal zugänglich schien.
    Doch er war nicht religiös. Er brauchte nicht zu glauben. Ihn interessierte nur das, was er sah, was er mit den Augen aufnehmen konnte, und davon gab es im Überfluss.

    Katrin besuchte ihn ganz selten in seiner Werkstatt.
    »Der Zytglogge?«, hatte sie während eines Besuches gestaunt. »Der sieht aus wie ein Spielzeug.«
    »Nein, kein Spielzeug. Es ist eine Miniatur.«
    »Funktioniert das?«
    Er führte ihn vor und freute sich über ihr Staunen.
    Es war alles so einfach gewesen. Wie in einem Traum. Eine Ausstellung von Fabergé hatte sich in seinen Gehirnwindungen festgesetzt und darauf vorbereitet. Er sah sie lebhaft vor sich, diese Türmchen vom Kreml, die das kunstvolle Ei stützten. Man hielt eine wunderschöne, zerbrechliche Welt in der Hand. Das Gefühl dabei hatte ihn in einen Rauschzustand versetzt, der ihn sich selbst enthob.

    Max Lebeau hielt sich nicht für genial. Es war einfach diese Idee gewesen, aus einem Traum entstanden. Nichts war naheliegender gewesen. Das war alles. Ein anderer hätte es auch gekonnt. Nur: Es hatte ihn im wahrsten Sinn des Wortes getroffen. Es musste doch irgendeinen in dieser Stadt treffen!
    »Und was machst du damit?«
    Er hatte sich Gedanken gemacht während der Arbeit.
    »Die Asiaten machen jetzt das große Geschäft mit den Vermessungsgeräten. Sie werden reich dabei. Und wer reich ist, kann Geld ausgeben. Also fabrizieren wir irgendeinmal diese kleinen Kostbarkeiten«, er lachte verlegen, als er sich so reden hörte. »Sie werden sie uns aus der Hand reißen. In diesen Miniaturen ist alles drin, was unsere Welt ausmacht. Wir geben sie einfach einem Bundesrat mit, nach Peking oder Shanghai, als Gastgeschenk an einen hohen Funktionär, und dann geht es los. Jeder, der etwas auf sich gibt, will das haben. Was der hohe Funktionär besitzt, wollen alle besitzen. Es wird zum Statussymbol.

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