Nore Brand 03 - Racheläuten
freigelegten Organe: Zahnräder, Zahnrädchen, Federn, eine unendliche Anzahl von Teilchen, für die er keinen Namen hatte. Trotzdem, ein wunderschöner Anblick.
Sein Blick glitt weiter. Keine Pflanze. Schiebevorhänge in einer dezenten Farbe. Erschreckend ordentlich das alles.
Nein, doch nicht ganz. Ein Laptop der jüngsten Generation lag offen auf dem Regal, voll Staub. Einer, der sein Gerät liebt, tut so etwas nicht. Einer, der sein Gerät in Ehren hält, steckt es in ein Neopren-Kleidchen und zieht den Reißverschluss immer sorgfältig zu, steckt es liebevoll in seine Tasche und trägt es mit nach Hause, damit ihm nichts zustößt.
Wenn nicht, wird es versteckt, wo kein Eindringling es findet.
Am besten hinter eine DUDEN-Attrappe.
Nino Zoppa hob den Blick.
Hier könnte man es auf den großen Querbalken legen, der hoch im Raum von einer zu anderen Wand verlief. Dort würde auch kein Mensch suchen.
Höchstens ein langer Kerl. So wie er.
Dort oben konnte man auch anderes verstecken.
Nino Zoppa streckte sich und tastete die obere Seite des Balkens ab. Doch da war nichts.
Der Bürosessel sah gut aus, sehr bequem. Nino ließ sich hineinfallen und betastete die Armlehne. Er pfiff leise ein paar anerkennende Töne. Samtweiches schwarzes Leder.
Nino Zoppa schloss die Augen und ließ seine feinsten Antennen ausfahren. In diesem Raum lebte nichts. Keine Energien. Dies bedeutete nur eines: In dieser teuren Umgebung hatte einer ganz klar keine Lust mehr auf Arbeit.
Hier wohnten Leere und Lustlosigkeit.
Wenn dieses Bild nicht wäre.
Er drehte den Stuhl um 180 Grad, was absolut geräuschlos vor sich ging, und schaute von unten auf das Bild. Er schob den Stuhl ganz nah an die Wand.
Ein Leinwanddruck. Er fuhr mit der Hand leicht über das Bild. Die Zeichnung war sehr fein gearbeitet. Jedes Zahnrädchen, jedes Federchen, alles.
Er hatte sich getäuscht. In diesem Raum waren Hingabe und Leidenschaft zu spüren. Zumindest auf der Leinwand.
Er stieß sich mit den Füßen ab und rollte wieder zurück.
Es schepperte, er war irgendwo angestoßen.
Er bückte sich, um nachzuschauen. Es war ein Papierkorb aus Chromstahl. Nino Zoppa riss die Ärmel seines Shirts über die Hände und zog ihn vorsichtig näher. Kein Fingerabdruck vermutlich. Er fand Papierschnitzel, zerrissene Seiten. Leere, fast leere und voll bekritzelte Seiten. Er nahm sie vorsichtig heraus.
Das war nicht das Resultat einer Vernichtung. Maxime Léon Lebeau, wer denn sonst, hatte diese Seiten achtlos zerrissen, vielleicht verärgert, weg damit, das brauche ich nicht mehr. Platz für anderes. Es sah eher nach entnervtem Aufräumen aus.
Nino Zoppa verteilte die Zettel auf dem Schreibtisch. War es dieselbe Handschrift wie die auf der Leinwand? Er schaute genau. Schwer zu sagen.
Er atmete auf. Endlich eine Herausforderung.
Vom Korridor her hörte er ein leises Geräusch. Die Lifttür vermutlich.
Rasch schob er die Papierfetzen zusammen und steckte sie in seine Jackentasche. Den Papierkorb schob er sanft zurück an seinen Platz.
Er horchte bewegungslos, doch es war wieder still im Korridor.
Nino Zoppa warf einen kurzen Blick auf den Laptop; die Staubschicht deutete darauf hin, dass hier einer gern von Hand schrieb.
Dieses Gerät würde also kaum etwas hergeben. Seine Gehirnzellen konnten solche Sachen riechen. Das Interessanteste, was hier für die Polizei zugänglich war, hatte er in der Jackentasche.
Sein Blick ging nochmals zur Decke. Er betrachtete nachdenklich den Holzbalken. Hier konnte sich einer aufknüpfen, wenn er genug hatte von allem.
Er hatte sich umgesehen, so wie es der Chef von ihm verlangte.
Schade, dass Mister Police Academy nichts davon wissen durfte, er würde sich krankärgern.
Er zuckte die Schultern. Möglicherweise amüsierte den Chef einfach die Tatsache, dass er mal etwas in der Luxusbranche herumstochern konnte. Diesen erfolgreichen Kerlen etwas die Luxuslaune verderben! Aber das war schwierig, mit einem Selbstmord musste man vorsichtig umgehen. Da schien sogar die Presse Beisshemmungen zu haben.
Sein Blick glitt zum Fenster. Es ging auf einen Park, von dessen Existenz er keine Ahnung gehabt hatte.
Hinter diesem Park mussten die Bahngleise liegen. Dieser Teil der Stadt war für ihn Terra incognita.
Terra incognita. Dieses Wort gefiel ihm.
Als er Mona kennenlernte, wollte sie mit ihm nach Australien fahren. Die Beziehung testen, hatte sie gemeint. »Vielleicht kommen wir zusammen zurück, vielleicht auch
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