Nore Brand 03 - Racheläuten
war mindestens zwei Stunden zugänglich gewesen. Offen für jeden, der nach etwas suchte.
Was würden die Papierfetzen verraten? Er hatte sie wenige Stunden vorher noch durchgesehen, mit Kopfschmerzen zwar und einem Killer von Medikament im Magen.
Seine Kritzeleien konnte doch keiner lesen, nicht einmal Katrin. Man hatte ihn damals gezwungen, mit der rechten Hand zu schreiben, ihn, den geborenen Linkshänder. Die Unleserlichkeit seiner Schrift war seine Rache gewesen. Nie konnte jemand lesen, was er schrieb. Nur: Auf das Geschriebene kam es bei ihm nicht an. Es waren die Skizzen.
Der kleine Polizist ging ihm wieder durch den Kopf mit seinen wunderlichen Augen. Er hatte ihn kurz gesehen, als er auftauchte und nach dem Computer der Finanzabteilung fragte. Der würde sich nicht für Gekritzel interessieren; dieser junge Kerl mit dem ungebändigten Haar sah, so hoffte er inständig, einzig und allein im Computer der Finanzabteilung seine Herausforderung.
Max Lebeau erhob sich von seinem Sessel.
Er blieb einen Augenblick stehen und schaute um sich.
Dieser junge Kerl würde sich die Zähne ausbeißen an diesem Fall. Die Vergangenheit der Finanzabteilung war nicht mehr zu entwirren. Dieses unsägliche Durcheinander in den ungeheuren Datenmengen hatte einige Informatiker kapitulieren lassen. Die elektronischen Monstergedächtnisse speicherten alles, doch die Wege, die zu den Informationen führten, waren verschüttet. Zu viele unfachmännisch abgespeicherte Daten, zu viele Benutzer. So hatte man ihm erklärt.
Wer nicht ganz genau wusste, wonach er suchte, würde in diesem elektronischen Labyrinth nichts finden.
Die Lage war über Jahre hinweg chaotisch gewesen. In der schlimmsten Phase hatte Oskar Schmied beschlossen, die Buchhaltung unter seine Fittiche zu nehmen. Er, der sonst alles von Hand machte, jede Liste und jede Grafik.
Und dann war der Enkel aufgetaucht. Finanzbuchhalter und zukünftiger Inhaber. Keiner hatte es gewagt, ihm auf die Finger zu schauen. Forster nicht, Petermann nicht, Remi Weissen gar nicht, und der Großvater ließ ihn mit der größten Hoffnung gewähren.
Aber auch ein Federico Meier hätte nichts gefunden, wenn sein Großvater verschwiegener gewesen wäre.
Max Lebeau ließ sich wieder in seinen Sessel fallen und schloss erschöpft die Augen. Er wusste es nur zu gut: Jetzt saß er selber im Glashaus. Sobald einer genau hinschaute, war es aus mit ihm.
Er öffnete die Augen und schaute zum Fenster. Es war Nacht geworden draußen.
Max Lebeau griff sich an den Hals. Ihm war, als ob er die Schlinge schon spürte.
6 Ein Alibi für den Schwiegersohn
Am Dienstagmorgen war Nino Zoppa schon früh zur Stelle.
Das schwarze Kostüm beim Empfang verkündete ihm, Remi Weissen sei eben eingetroffen. Selbstverständlich nehme er sich die notwendige Zeit für ein Gespräch mit der Polizei.
Das Kostüm wedelte mit der Hand in eine Windrichtung. Remi Weissens Büro lag also im neuangebauten Teil des Hauses.
Als Nino Zoppa das Büro betrat, war Weissen im Begriff, seine Hemdsärmel hochzukrempeln. Da wollte sich einer an die Arbeit machen.
»Setzen Sie sich bitte! Was gibt es Neues?«, forderte Remi Weissen den frühen Besucher auf und warf sich in seinen Bürosessel.
Nino Zoppa setzte sich hin. Dieser Remi Weissen war auch im Sitzen ein Riese.
»Sind wirklich Zweifel aufgetaucht?«
Nino Zoppa verzog den Mund und zuckte die Schultern.
»Der Chef will, dass wir uns nochmals umsehen. Er will einen Strich unter die Sache ziehen.«
»Endlich! Ein vernünftiger Entschluss«, polterte Weissen. »Wir müssen wieder Ruhe haben für unsere Arbeit. Aber Ihr Kollege, dieser …«, er schaute Nino Zoppa fragend an.
Nino schwieg.
»Der hat doch gute Arbeit gemacht! Hat die traurige Sache genau angeschaut und die logischen Schlüsse gezogen!«
»Ja, das hat er«, sagte Nino Zoppa mit gleichmütiger Stimme. »Aber der Chef will, dass ich die Alibis nochmals überprüfe. Es gibt leider einige Lücken in den Akten.« Er machte eine kurze Pause. »In den Akten muss Ordnung sein, bevor wir die Sache abschließen können«, setzte er dann hinzu. Ein solider Polizist würde das so sagen, hoffte er.
Aber Mister Police Academy würde ihn steinigen für diesen Satz.
Remi Weissen runzelte die Stirn. »Also kommen Schlampereien auch bei euch vor.« Plötzlich lächelte er.
Nino Zoppa war sich nicht sicher, ob dieses Lächeln der Globalität von Schlampereien galt oder der Tatsache, dass jemand auch nur mit einem
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