Nore Brand 03 - Racheläuten
Gauner entlarvt.
Und Max Lebeau, was war er selber?
Max Lebeau verdrängte die Erinnerungen an jene Nacht.
Er hatte seine Joggingstrecke verdoppelt, als er erfahren hatte, dass bei der Polizei Zweifel aufgekommen waren. Die Firma schien endlich aus den Schlagzeilen, und schon waren die Spürhunde wieder unterwegs.
Auch Katrin begann sich Gedanken zu machen.
Sie kannte einen von der Kantonspolizei, Bastian Bärfuss hieß er. Vor Jahren hatten sie sich an der Volkshochschule kennengelernt, in einem Kurs über Ägypten und seine Pharaonen. Den Kurs hatte man mit einer Reise an den Nil beschlossen. Die Erinnerungen daran ließen Katrin, diese ruhige und abgeklärte Juristin, in eine leidenschaftliche, zweifellos historische Rage kommen.
Die Reise an den Nil hatte weitere Folgen: Von da an rief Bärfuss an, wenn er juristischen Rat suchte. Lebeau wusste zu gut, dass Katrin komplizierte juristische Sachlagen so erklären konnte, dass diese annähernd verständlich wurden. Sie amüsierte sich darüber, dass sie auf diese Weise der Kantonspolizei etwas unter die Arme greifen konnte. Bärfuss genierte sich nicht, ihr Fragen zu stellen, die er im Kreis seiner Kollegen nie gestellt hätte.
Doch Katrin urteilte nie; sie dachte einfach über die Dinge nach, über Ereignisse. »Wenn man beginnt, Urteile zu fällen, dann kommt sofort Nebel ins Gehirn und damit verdächtige Rauschgefühle, du weißt schon, Max. So fühlt sich die Macht an. Ich weiß, wovon ich spreche. In diesem Zustand kann der Mensch nicht mehr denken, weil er die Notwendigkeit dazu nicht mehr spürt.«
Katrin sagte solche Sachen und lachte dann lauthals über ihre pathetische Ader, die höchstens zweimal im Jahr aktiv wurde, was sie schon maßlos übertrieben fand. Sie hätte eine großartige Karriere machen können, davon war er überzeugt, unbegreiflich, dass sie das nie interessiert hatte.
Doch warum redete Bärfuss mit Katrin über diese Sache mit Federico Meier?
Hätte Bärfuss etwas gesagt, wenn Katrin nicht nachgefragt hätte?
Er fragte sich, ob Katrin nach solchen Sachen fragte, wenn sie mit Bärfuss telefonierte.
Bisher hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht. Sie war einfach so. Aber nun ertappte er sich beim Gedanken, dass Katrin ihm Sachen verschwieg.
War das so, weil er selber etwas verschwieg?
Lebeau dachte an den kleinen Polizisten.
Nach dem Training am vergangenen Mittwoch musste Max Lebeau wissen, was Remi Weissen von diesem Todesfall hielt. Er hatte einen Schluck Bier genommen und gleich nach dem genießerischen Ächzen gefragt. So als ob die Frage eben in seinem Kopf aufgetaucht wäre. Einfach so. Ein Nebenschauplatz. Ganz beiläufig.
»Hast du gedacht, dass so einer sich umbringt?«
Remi Weissen starrte ihn überrascht an. Lebeau musste sich kurz abwenden.
»Nie!«, erwiderte Weissen mit großer Bestimmtheit. Er lachte Lebeau zu. »Nie! Aber lassen wir die Leute doch im Glauben.«
Lebeau war es, als ob in Weissens Blick unvermittelt etwas Lauerndes aufgetaucht wäre. Es konnte auch Spott gewesen sein.
Max Lebeau hatte keine Übung darin, Gedanken oder Gefühle in Gesichtern zu lesen.
Er hoffte, dass Weissen nicht merkte, wie sehr er plötzlich schwitzte.
»Ist etwas?«, fragte Weissen in dem Moment.
Lebeau legte erschrocken seine Hand an die Stirn. »Kopfschmerzen, ich habe immer wieder Kopfschmerzen. In den letzten Jahren. Doch manchmal habe ich das Gefühl, man könnte sich daran gewöhnen.«
Weissen nickte und schaute weg. »Ich weiß, was du meinst.«
4 Terra incognita
Nino stand vor der angelehnten Tür.
›Sylvia Brändli‹ las er auf dem Schildchen.
Er klopfte an.
Keine Antwort.
Er klopfte nochmals.
Nichts.
Es war mitten im Nachmittag und kein Mensch an der Arbeit? Wie war das möglich? Er war in der Eingangshalle stehen geblieben, aber nichts deutete auf die traurige Tatsache hin, dass ein junger Mensch hier nicht mehr jeden Tag auftauchte, grüßte oder nicht grüßte, in der Kantine seinen Kaffee holte, mit der Frau an der Kasse flirtete oder sie ignorierte, vielleicht die Räume mit dem Duft eines abscheulichen Rasierwassers verpestete.
Nichts deutete auf eine Lücke in diesem Firmenalltag hin, dabei war Federico Meier immerhin der Enkel des Direktors gewesen.
Er war tot, und in diesem Haus war keine Trauer zu spüren.
Nino Zoppa schaute sich um.
Auch nichts zu sehen. Für Selbstmörder legte man wahrscheinlich auch keine Kondolenzbücher auf, es gab keine Blumensträuße hinter dem Foto
Weitere Kostenlose Bücher