Nore Brand 03 - Racheläuten
sie über Wilma Fink und ihr Verschwinden nachdachte, desto unbehaglicher fühlte sie sich.
Es konnte aber auch an dieser Umgebung liegen, diesen hohen Häusern, die ihr fremd waren, diesem Labyrinth von Wegen und Sträßchen. Seltsam auch, dass sie sich hier nicht auskannte.
Für Julius und Wilma gehörten diese Gassen vermutlich zum erweiterten Spielareal. Auch Dominik würde hier genug Gras finden. In diesen vielen Gärten, unter den zahllosen Sträuchern konnte eine Schildkröte für immer untertauchen.
Sie sah das besorgte Kindergesicht von Julius vor sich. Wilma ist weg!
Nore Brand hatte sich zu schnell zufriedengegeben. Sie ärgerte sich über Lehrer Zehnder, dem sie dasselbe vorwarf. Die Kommissarin durfte Wilmas Mutter nicht vertrauen.
Sie ging in Gedanken versunken den überbauten Hang entlang, bis sie das Firmenschild entdeckte. TTC.
Sie blieb stehen und schaute sich um. Ein lang gestreckter Fachwerkbau mit einem modernen Anbau. Der Aufschwung hatte also Platzprobleme mit sich gebracht. Die Fenster des Altbaus waren neu, das Holz frisch behandelt. Die Umgebung wirkte leer. Man hatte den Garten gerodet, neue Erde angeschüttet. Die jungen Ahornbäumchen standen dünn und verloren in einer Reihe.
Das war sie also, diese Firma. Nore Brand setzte sich langsam wieder in Bewegung. Sie wollte noch nicht auffallen. Das würde früh genug der Fall sein.
Hier also war eine alte Firma unter einem neuen Namen wieder aufgeblüht. Den eleganten, eher altertümlichen Schriftzug und die Farben, Hellblau und Goldgelb, hatte man beibehalten. So würde man die Traditionsfirma wiedererkennen. Wiedererkennung war unbezahlbar. Die neuen, schmissigen Initialen, TTC, waren ein Versuch, die Geschichte des Niedergangs zu vertreiben. Die Firmentaufe war aufwendig inszeniert worden. Die Jubelmeldungen im Zusammenhang mit der Zytglogge-Miniatur überstrahlten die alte Geschichte.
Und plötzlich dieser Bruch mitten in der Erfolgsgeschichte. Wegen privaten Problemen des Finanzchefs. Natürlich, es waren immer private Probleme. Was sonst. Der Mensch machte sich ganz privat Sorgen, auch im Zusammenhang mit seiner Arbeitsstelle, und er brachte sich ganz privat um, wenn die Not nicht mehr zu wenden war.
Was für ein armer Kerl, dachte man. Am Leben zerbrochen.
Das klang traurig, aber es war keine Anklage. Man konnte das hernehmen und brauchte nicht über Schuldige nachzudenken. Es war das Schicksal gewesen, und das konnte man nicht auf die Anklagebank setzen.
Nore Brand ließ ihren Blick über die Anlage schweifen. Nein, in den meisten Fällen war es nicht das Schicksal. Auch hier war es nicht anders. Auch wenn hier einer am Leben zerbrochen war, wie man das so überhastet verkündet hatte, würde die Polizei mit der Zeit die menschliche Gestalt erkennen, die sich dahinter versteckte.
Feinde, Neider, Missgünstige.
Hinter dem Hauptgebäude erstreckte sich eine Baracke in den Park hinein. Das musste die Werkstatt sein, wo die Miniaturen hergestellt wurden.
Es gab keinen Grund, auszuschließen, dass die Lösung des Falls Federico Meier hier zu suchen war, denn in diesem Haus waren Familie und Firma vereint.
Die Akte Meier hatte nicht viel hergegeben. Hinweise auf Freunde und Bekannte gab es kaum; Federico Meier war ein frisch Zugezogener. Er war eben dabei gewesen, hier Fuß zu fassen.
Nore Brand hatte fürs Erste genug gesehen. Sie kehrte um.
Eine Viertelstunde später fand sie Nino Zoppa an ihrem Bürotisch.
Er fuhr zusammen, als sie plötzlich hinter ihm stand.
»Nore?«
»Ja, wer sonst?«
»In meinem Büro habe ich keine Ruhe«, erklärte er hektisch. »Zu viele Leute. Da habe ich gedacht … Aber solltest du nicht in Interlaken sein?«
»Es ist etwas dazwischen gekommen.«
Manchmal muss man sich dem Leben, seinen Wegen und Windungen ergeben, um weiterzukommen. Sie beschloss, diese Weisheit für sich zu behalten.
»Schon wieder?« Er schaute sie zweifelnd an. »Irgendeinmal kauft dir das keiner mehr ab.«
»Das hast du schon oft befürchtet, aber ich bin immer noch da. Ich musste einer Sache nachgehen. Julius stand heute Morgen vor meiner Tür.«
»Julius?«
»Julius geht in die zweite Klasse. Auf dem Rücken trägt er die Nummer 11.«
Nino schaute sie fragend an.
»Bayern München.« Sie machte eine Handbewegung, die einen Hahnenkamm andeuten sollte.
Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
»Keine Ahnung?«, fragte sie erstaunt. »Das ist ein junger Mann, der in München über den grünen Rasen rennt
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