Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
der neuen Wissenschaft Neurologie, wurden von charismatischen Vordenkern propagiert und kamen dem menschlichen Erklärungsbedürfnis entgegen. Das klingt alles sehr aktuell und ist uns eine wichtige Lektion: Eine überzeugende, aber unzutreffende und schädliche Reihe von Erklärungen und kausalen Theorien führte die klügsten Ärzte und intelligentesten Patienten der Welt hinters Licht. Es waren Spekulationen, die sich allesamt als grundfalsch erwiesen – und genauso wird es vielen unserer heutigen Vermutungen ergehen.
Neurasthenie
(Zeit: Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts)
1869 definierte der amerikanische Neurologe George Miller Beard die Neurasthenie – wörtlich »Nervenschwäche« – und brachte sie mit viel Erfolg unter die Leute. Seine Diagnose füllte eine Lücke für die vielen Menschen, die unter unspezifischen körperlichen und seelischen Symptomen wie Ermüdung, Antriebslosigkeit, Schwäche, Schwindel, Ohnmachten, Legasthenie, Blähungen, Kopfweh, diffusen Schmerzen und Beschwerden, Schlafstörungen und Impotenz, Depressionen oder Ängsten oder beidem litten. Die Neurasthenie hatte den Vorteil, dass sie dieses breite Spektrum relativ alltäglicher Beschwerden mit einer gemeinsamen Ursache zu erklären wusste.
Beards kausale Theorie folgte einem Hydraulikmodell und führte, eigentlich recht anschaulich, körperliche und geistige Erschöpfung auf die nachlassende Versorgung des zentralen Nervensystems mit Energie zurück, analog einem Stromausfall bei einem elektrischen Gerät. Für den Energieschwund nannte er gesellschaftliche Gründe, speziell die Schwierigkeiten des Menschen, sich an die technische Zivilisation im rasanten Wandel, an den Stress der Verstädterung und an die zunehmend konkurrenzorientierte Geschäftswelt anzupassen: Die Menschen würden krank, weil sie sich über ihre Toleranzgrenze und ihre Energiereserven hinaus anstrengten. Dass die meisten Neurastheniefälle in den ambitionierten Schichten sesshafter Arbeiter aufträten, sei damit zu erklären, dass sie ihren Geist überbeanspruchten, während sie von Natur aus für die körperliche Verausgabung angelegt seien. Freud, damals Neurologe, übernahm die Neurasthenie als nützliche Diagnose, weil sie so gut auf viele seiner Patienten passte, entwickelte dann aber eine völlig andere Theorie, um den Energiemangel zu erklären: schwindende Libido. Diese, so seine Vermutung, könne konstitutionell sein oder die Folge zu vieler Orgasmen (meistens aufgrund exzessiver Masturbation).
Die Therapien gegen Neurasthenie waren bemerkenswert vielfältig, unspezifisch und unsinnig. Beards Lieblingsmethode war die biologische Aufladung des Systems durch Elektrotherapie, die Freud höhnisch als »Pseudobehandlung« abtat: Er empfahl stattdessen eine Reduzierung der libidozehrenden Aktivitäten wie Masturbation oder exzessiven Geschlechtsverkehrs. Die Psychoanalyse hielt er bei Neurasthenie nicht für das Mittel der Wahl, denn ihre Ursache sei schließlich kein psychischer Konflikt, sondern ein Libidodefizit. Andere wiederum empfahlen Ruhekuren, Badekuren, Ernährungsumstellung, Ablenkung von den Alltagssorgen. Dies alles hatte im besten Fall die Wirkung eines Placebos.
Neurasthenie war eine vage, nichtssagende Diagnose mit vagen, nichtssagenden und nutzlosen Therapien. Ihrer enormen, weltweiten Popularität tat dies aber keinen Abbruch, was uns sehr viel über die Verführungskraft klinischer Konfabulationen sagt: Unser Verstand verleitet uns, stets den Elefanten in der Wolke zu suchen. Das Etikett, das wir uns ausdenken, liefert uns, so ungenau es auch sein mag, eine beruhigende Erklärung für das Leiden des Patienten und einen Behandlungsansatz. Neurasthenie ist eine der Technik und der Weltanschauung einer bestimmten Epoche und Kultur angemessene Metapher für Unbehagen. In einer Zeit, in der die Elektrizität in aller Munde ist, sind Antriebslosigkeit und Energiearmut anschauliche Leidensmetaphern. In einer anderen Zeit, in der man sich für Neurotransmitter interessiert (heute), lautet das Schlagwort »chemisches Ungleichgewicht«.
Die Neurasthenie verschwand ziemlich abrupt – wahrscheinlich weil die Psychiater die Neurologen als Hauptbetreuer von Patienten mit unspezifischen und vagen körperlichen und seelischen oder geistigen Symptomen ablösten. Parallel zu dieser Verlagerung fand eine Verschiebung von den körperlichen zu den psychologischen Symptomen als bevorzugtem Kommunikationsmodus zwischen Patient und Arzt
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