Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
herauszugeben, nach denen die Medien gehalten sind, auf klare, sachliche Weise zu berichten und jegliche Art von verherrlichender Effekthascherei und düsterer Romantik ebenso zu meiden wie detaillierte Ablaufbeschreibungen und die Andeutung, Selbstmord sei eine rationale Entscheidung oder ein Tor zu dauerhaftem Ruhm. 6
Massenselbstmord hingegen hat sozial sanktionierte Beweggründe. Die Geschichte kennt Dutzende Beispiele von besiegten Armeen, die lieber kollektiv aus dem Leben schieden (gelegentlich auch mit ihren Frauen und Kindern), als Demütigung und Versklavung durch den Feind auf sich zu nehmen. Weniger häufig ist der Protestselbstmord, bei dem eine oder mehrere Personen ihr Anliegen auf die denkbar radikalste Weise zum Ausdruck bringen. Eine dritte Variante ist die Kamikaze-Mission zur Verteidigung einer Religion, eines Ideals, einer Nation. Und schließlich kennen wir die religiös motivierten Massenselbstmorde, bei denen die Anhänger ihrem proklamierten Messias in den Tod folgen.
Die natürliche Auslese hat suizidale Neigungen im Erbgut des Menschen gnadenlos und ziemlich erfolgreich ausgedünnt. Allen Unbilden des Lebens zum Trotz scheidet nur jeder Tausendste durch eigene Hand aus dem Leben. Selbstzerstörerische Menschen sterben häufig jung und nehmen ihre Gene mit ins Vergessen, während lebensbejahende DNA den Fortpflanzungswettbewerb gewinnt und uns dazu bringt, Mühsal und Not mit allen Mitteln zu überstehen. Bei einer Selbstmordepidemie setzt sich der Herdentrieb über unseren ausgeprägten Selbsterhaltungsinstinkt hinweg – was zeigt anschaulicher die Anziehungskraft von Modekrankheiten, die mitunter sogar über den angeborenen Lebenswillen triumphiert?
Neurowissenschaften befördern klinische Moden
Neurasthenie, Hysterie, Persönlichkeitsspaltung waren die drei Modediagnosen, die speziell in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch charismatische Neurologen (Beard, Charcot, Freud) ins Leben gerufen wurden. Sie dienten als Erklärung für die verwirrenden, unspezifischen Symptome, mit denen viele Patienten zu ihnen kamen. Warum drei Epidemien auf einmal? Und warum wurden alle drei von Neurologen ausgelöst? Dies ist eine warnende (und überaus aktuelle) Geschichte darüber, wie die Brillanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse halbgaren klinischen Ideen bisweilen unverdiente Autorität verleiht. Die Umstände waren damals ähnlich wie heute – die Einsicht der Forscher in die Funktionsweise des Gehirns hatte einen großen Sprung nach vorn gemacht. Die Nervenzelle war eben entdeckt, und die Wissenschaftler, auch Freud, waren eifrig damit beschäftigt, die Bahnen des hochkomplexen Geflechts synaptischer Verbindungen zu erkunden. Das Gehirn erwies sich als elektrische Maschine, unvergleichlich komplizierter, aber nicht grundsätzlich verschieden von den vielen neuen Elektrogeräten, die zu der Zeit erfunden wurden und ins Alltagsleben Eingang fanden.
Die neue Biologie des Gehirns, so die Annahme, sollte Verhaltensweisen erklären können, die zuvor ins abstrakte Reich der Philosophen und Theologen verwiesen worden waren. Vielleicht wäre es unmöglich, die Tiefen der menschlichen Seele auszuloten, aber es sollte doch denkbar sein, die einzelnen Bauteile und elektrischen Verschaltungen des menschlichen Gehirns zu ergründen. Symptome waren nicht das Werk eines Dämons oder Vampirs, noch waren sie Folge von Fluch, Sünde oder Spinnenbiss, sondern offenbarten sich auf einmal als Fehlfunktionen in der Mechanik des Gehirns. Dies war – und ist nach wie vor – ein treffendes und sehr brauchbares Modell. Aber damals wie heute war und ist das Problem, dass wir unterschätzen, wie schwierig es ist, die Geheimnisse dieser bemerkenswert komplizierten Maschine zu entschlüsseln. Die klinischen Konzepte waren abstrus, doch die Autorität der Neurowissenschaften verlieh ihnen eine Unanfechtbarkeit, die ihr nicht zustand.
So kam es zu den drei Modediagnosen Neurasthenie, Hysterie und Persönlichkeitsspaltung, und jede Etikettierung behauptete, ein ansonsten verwirrend unspezifisches menschliches Leiden zu verstehen. Keine erwies sich als nützlich, in mancherlei Hinsicht waren sie alle drei schädlich. Ihre kausalen Erklärungen waren falsch, und die Therapieempfehlungen hatten bestenfalls die Wirkung eines Placebos; häufiger verschlimmerten sie die Probleme, die sie kurieren wollten. Aber die Etiketten hielten sich Jahrzehnte, denn sie klangen überzeugend, stützten sich auf die Kompetenz
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